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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

zu Zeremonien und Leistungen erlöst wurde, die dem männlichen Geiste -- wir
kommen auf diesen Punkt zurück ^- durchaus widerstreben, und die zur Folge
haben, daß bei den romanischen Völkern die Männer der Mehrzahl nach offne
Atheisten sind, während die kirchlich gebliebene Minderzahl alle Thatkraft ein¬
gebüßt hat. Gfrörer beantwortet in einem vor seiner Konversion geschriebnen
Werke die Frage, wie die Kraftlosigkeit der Habsburger zu erklären sei, mit
den Worten: Die jesuitische Erziehung hat dem Adler die Krallen ausgebrochen.
Ju den protestantischen Ländern darf und kann der Mann Christ sein ohne
die Ohrenbeichte abzulegen und ohne vor Menschen, Symbolen und Reliquien
auf den Knieen zu rutschen; das ist eine ungeheure Wohlthat, eine wirkliche
Befreiung.

Sodann hat sich, nicht zwar aus dem Luthertum und aus dem Calvi¬
nismus, aber aus der Spaltung doch schließlich die Glaubensfreiheit ergeben.
Nachdem die Ketzerverfvlgung mit vordem nie gesehenem Fanatismus zwei
Jahrhunderte lang in allen Ländern des alten wie des neuen Glaubens ge¬
wütet hatte, mußte jede der drei Konfessionen erschöpft von dem wahnsinnigen
Versuche der Ausrottung aller Andersdenkenden Abstand nehmen und sich zur
Duldung nicht allein der beiden andern, sondern auch der Spaltungen im
eignen Schoß bequemen. Die heutige Glaubensfreiheit steht und füllt, wie
jede Freiheit, mit der Vielheit der sie bedrohenden, aber einander gegenseitig
in Schach haltenden Mächte; gelänge die Wiedervereinigung der Kirchen,
gleichviel auf welcher Grundlage, so wäre es um die Glaubensfreiheit ge¬
schehen. Wie die Dinge jetzt liegen, macht in der ganzen zivilisirten Welt
-- Rußland rechnen wir nicht dazu -- die religiöse Spaltung die Wiederkehr
von Ketzerverfolgungen im großen Stile unmöglich.

Und in dieser Glaubensfreiheit finden die edlern und stärkern Seelen doch
auch leichter den Zugang zu jener höchsten und reinsten Freiheit, die Luther
eigentlich meinte. Diese Freiheit eines Christenmenschen, der kein Gesetz an¬
erkennt außer dem in seinem Herzen, und der so kühn sein darf, weil er
wirklich die Gottheit aufgenommen hat in seinen Willen, diese erhabne sitt¬
liche Freiheit, von der bei den lutherischen Pastoren nach Luthers Tode so
gar nichts zu spüren ist, war freilich nicht erst durch Luther in die Welt ge¬
kommen; hatte sie doch so mancher Klosterbruder in stiller Zelle so gut ge¬
kannt wie der große Dante. Aber erst nach der Herstellung jener Glaubens¬
freiheit, die, wie gesagt, die Spaltung der Kirche in Konfessionen zur Voraus¬
setzung hat, kann sich ihrer der protestantische Privatmann -- der Geistliche
freilich nicht -- erfreuen ohne die Furcht vor Verfolgungen und gehässigen
Streitigkeiten.

(Schluß folgt)




Geschichtsphilosophische Gedanken

zu Zeremonien und Leistungen erlöst wurde, die dem männlichen Geiste — wir
kommen auf diesen Punkt zurück ^- durchaus widerstreben, und die zur Folge
haben, daß bei den romanischen Völkern die Männer der Mehrzahl nach offne
Atheisten sind, während die kirchlich gebliebene Minderzahl alle Thatkraft ein¬
gebüßt hat. Gfrörer beantwortet in einem vor seiner Konversion geschriebnen
Werke die Frage, wie die Kraftlosigkeit der Habsburger zu erklären sei, mit
den Worten: Die jesuitische Erziehung hat dem Adler die Krallen ausgebrochen.
Ju den protestantischen Ländern darf und kann der Mann Christ sein ohne
die Ohrenbeichte abzulegen und ohne vor Menschen, Symbolen und Reliquien
auf den Knieen zu rutschen; das ist eine ungeheure Wohlthat, eine wirkliche
Befreiung.

Sodann hat sich, nicht zwar aus dem Luthertum und aus dem Calvi¬
nismus, aber aus der Spaltung doch schließlich die Glaubensfreiheit ergeben.
Nachdem die Ketzerverfvlgung mit vordem nie gesehenem Fanatismus zwei
Jahrhunderte lang in allen Ländern des alten wie des neuen Glaubens ge¬
wütet hatte, mußte jede der drei Konfessionen erschöpft von dem wahnsinnigen
Versuche der Ausrottung aller Andersdenkenden Abstand nehmen und sich zur
Duldung nicht allein der beiden andern, sondern auch der Spaltungen im
eignen Schoß bequemen. Die heutige Glaubensfreiheit steht und füllt, wie
jede Freiheit, mit der Vielheit der sie bedrohenden, aber einander gegenseitig
in Schach haltenden Mächte; gelänge die Wiedervereinigung der Kirchen,
gleichviel auf welcher Grundlage, so wäre es um die Glaubensfreiheit ge¬
schehen. Wie die Dinge jetzt liegen, macht in der ganzen zivilisirten Welt
— Rußland rechnen wir nicht dazu — die religiöse Spaltung die Wiederkehr
von Ketzerverfolgungen im großen Stile unmöglich.

Und in dieser Glaubensfreiheit finden die edlern und stärkern Seelen doch
auch leichter den Zugang zu jener höchsten und reinsten Freiheit, die Luther
eigentlich meinte. Diese Freiheit eines Christenmenschen, der kein Gesetz an¬
erkennt außer dem in seinem Herzen, und der so kühn sein darf, weil er
wirklich die Gottheit aufgenommen hat in seinen Willen, diese erhabne sitt¬
liche Freiheit, von der bei den lutherischen Pastoren nach Luthers Tode so
gar nichts zu spüren ist, war freilich nicht erst durch Luther in die Welt ge¬
kommen; hatte sie doch so mancher Klosterbruder in stiller Zelle so gut ge¬
kannt wie der große Dante. Aber erst nach der Herstellung jener Glaubens¬
freiheit, die, wie gesagt, die Spaltung der Kirche in Konfessionen zur Voraus¬
setzung hat, kann sich ihrer der protestantische Privatmann — der Geistliche
freilich nicht — erfreuen ohne die Furcht vor Verfolgungen und gehässigen
Streitigkeiten.

(Schluß folgt)




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[0464] Geschichtsphilosophische Gedanken zu Zeremonien und Leistungen erlöst wurde, die dem männlichen Geiste — wir kommen auf diesen Punkt zurück ^- durchaus widerstreben, und die zur Folge haben, daß bei den romanischen Völkern die Männer der Mehrzahl nach offne Atheisten sind, während die kirchlich gebliebene Minderzahl alle Thatkraft ein¬ gebüßt hat. Gfrörer beantwortet in einem vor seiner Konversion geschriebnen Werke die Frage, wie die Kraftlosigkeit der Habsburger zu erklären sei, mit den Worten: Die jesuitische Erziehung hat dem Adler die Krallen ausgebrochen. Ju den protestantischen Ländern darf und kann der Mann Christ sein ohne die Ohrenbeichte abzulegen und ohne vor Menschen, Symbolen und Reliquien auf den Knieen zu rutschen; das ist eine ungeheure Wohlthat, eine wirkliche Befreiung. Sodann hat sich, nicht zwar aus dem Luthertum und aus dem Calvi¬ nismus, aber aus der Spaltung doch schließlich die Glaubensfreiheit ergeben. Nachdem die Ketzerverfvlgung mit vordem nie gesehenem Fanatismus zwei Jahrhunderte lang in allen Ländern des alten wie des neuen Glaubens ge¬ wütet hatte, mußte jede der drei Konfessionen erschöpft von dem wahnsinnigen Versuche der Ausrottung aller Andersdenkenden Abstand nehmen und sich zur Duldung nicht allein der beiden andern, sondern auch der Spaltungen im eignen Schoß bequemen. Die heutige Glaubensfreiheit steht und füllt, wie jede Freiheit, mit der Vielheit der sie bedrohenden, aber einander gegenseitig in Schach haltenden Mächte; gelänge die Wiedervereinigung der Kirchen, gleichviel auf welcher Grundlage, so wäre es um die Glaubensfreiheit ge¬ schehen. Wie die Dinge jetzt liegen, macht in der ganzen zivilisirten Welt — Rußland rechnen wir nicht dazu — die religiöse Spaltung die Wiederkehr von Ketzerverfolgungen im großen Stile unmöglich. Und in dieser Glaubensfreiheit finden die edlern und stärkern Seelen doch auch leichter den Zugang zu jener höchsten und reinsten Freiheit, die Luther eigentlich meinte. Diese Freiheit eines Christenmenschen, der kein Gesetz an¬ erkennt außer dem in seinem Herzen, und der so kühn sein darf, weil er wirklich die Gottheit aufgenommen hat in seinen Willen, diese erhabne sitt¬ liche Freiheit, von der bei den lutherischen Pastoren nach Luthers Tode so gar nichts zu spüren ist, war freilich nicht erst durch Luther in die Welt ge¬ kommen; hatte sie doch so mancher Klosterbruder in stiller Zelle so gut ge¬ kannt wie der große Dante. Aber erst nach der Herstellung jener Glaubens¬ freiheit, die, wie gesagt, die Spaltung der Kirche in Konfessionen zur Voraus¬ setzung hat, kann sich ihrer der protestantische Privatmann — der Geistliche freilich nicht — erfreuen ohne die Furcht vor Verfolgungen und gehässigen Streitigkeiten. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/464>, abgerufen am 26.08.2024.