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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die freie Buhne und der Naturalismus

Dr. Brahm alle der Prüderie und Heuchelei beschuldigt, die sich dagegen auf¬
lehnen, dann geht er viel zu weit, und wenn er verlangt, daß mau ihm mit
der Moralität vom Halse bleiben solle, dann wäre darauf zu erwidern, daß
in dieser Frage, wenn auch uicht die Moralität, umso mehr aber die Sittlich¬
keit mitzusprechen hat. In jenem Punkte, wo das Reinmenschliche und das
Tierische so nahe zusammen liegen, wo die höchsten Empfindungen und die
niedrigsten und gemeinsten sich mit den Wnrzelenden berühren, da ist es nach
meiner Überzeugung verwerflich, das Tierische so hervor zu kehren, daß es
den Anschein gewinnen muß, als wolle der Verfasser absichtlich dem sittlichen
Gefühl der Zuschauer einen Schlag versetzen. Inzwischen hat die freie Bühne
an sämtlichen übrigen Theatern Mitschuldige bekommen. Die überall auf¬
geführte Haubenlerche geht bis zur Rotznase vor den Augen des Publikums.
Das war selbst dem goldnen Esel des Apulejus bei ähnlichem Anlaß zu starker
Tabak: er nahm Reißaus. Solche Stücke gehören nicht in die Theater, wo
junge Mütter und junge Töchter auf den Zuschauerbänken sitzen; man müßte,
wie im Altertum und im alten England, dem weiblichen Geschlechte den Zu¬
tritt gänzlich untersagen. Die Krapüle, die alsdann noch die Räume füllte,
könnte sich, wie sie wollte, an dem widerwärtigen Schauspiele belustigen.
Herr Dr. Brahm sagt beschönigend von Szenen, wie sie sich auf der freien
Bühne abspielten, daß in ihnen die Kunst der Natur um einen Schritt näher
komme. Man soll den Namen der Kunst nicht unnützlich führen; in jener
Szene findet eine so abscheuliche Verschmelzung statt, wie sie selbst in den
alten, uur von und vor Männern aufgeführten Hetürenkomödien nicht vor¬
kommt. Die Komödien des Aristophanes gehören nicht hierher; seine Größe
beruht übrigens in ganz andern Dingen als in seinen Sitteulvsigkeiten.

Mau mißverstehe mich nicht, als ob ich der Ansicht wäre, das Sinnliche
sei aus dem Drama ganz zu verbannen. Kein dramatischer Dichter kann die
sinnliche Seite der menschlichen Natur verleugnen wollen; ihre Darstellung
hat volle Berechtigung und große Bedeutung überall da, wo sie mit dem
Gange der Handlung notwendig verknüpft ist. Wenn ich von meinen eignen
Sachen reden darf, so bin ich ihm nie ans dein Wege gegangen, und ich er¬
laube mir, auch für mich als Dramatiker auf die Bezeichnung naturalistisch
Anspruch zu mache", insofern darunter nichts andres zu verstehen ist als das
naturwahre. Aber es giebt eben einen Unterschied zwischen dem Sinnlichen
und dem Gemeinen, zwischen dein feinen Witz und der groben Zote.

Die große dramatische Kunst, der auf der freien Bühne die Wege geebnet
werden sollten, liegt nicht auf dem Wege des modernen Naturalismus; sie
bedarf andrer Stoffe als der aus dem Sumpfe hervor geholten: sie bedarf
großer Menschen und großer Handlungen. Das lehrt ihre ganze Entwicklung
von ihren ersten Anfängen bis jetzt, durch einen Zeitraum von 2400 Jahren
hindurch, und darin hat sich in keiner Periode und bei keinem Bolle etwas


Die freie Buhne und der Naturalismus

Dr. Brahm alle der Prüderie und Heuchelei beschuldigt, die sich dagegen auf¬
lehnen, dann geht er viel zu weit, und wenn er verlangt, daß mau ihm mit
der Moralität vom Halse bleiben solle, dann wäre darauf zu erwidern, daß
in dieser Frage, wenn auch uicht die Moralität, umso mehr aber die Sittlich¬
keit mitzusprechen hat. In jenem Punkte, wo das Reinmenschliche und das
Tierische so nahe zusammen liegen, wo die höchsten Empfindungen und die
niedrigsten und gemeinsten sich mit den Wnrzelenden berühren, da ist es nach
meiner Überzeugung verwerflich, das Tierische so hervor zu kehren, daß es
den Anschein gewinnen muß, als wolle der Verfasser absichtlich dem sittlichen
Gefühl der Zuschauer einen Schlag versetzen. Inzwischen hat die freie Bühne
an sämtlichen übrigen Theatern Mitschuldige bekommen. Die überall auf¬
geführte Haubenlerche geht bis zur Rotznase vor den Augen des Publikums.
Das war selbst dem goldnen Esel des Apulejus bei ähnlichem Anlaß zu starker
Tabak: er nahm Reißaus. Solche Stücke gehören nicht in die Theater, wo
junge Mütter und junge Töchter auf den Zuschauerbänken sitzen; man müßte,
wie im Altertum und im alten England, dem weiblichen Geschlechte den Zu¬
tritt gänzlich untersagen. Die Krapüle, die alsdann noch die Räume füllte,
könnte sich, wie sie wollte, an dem widerwärtigen Schauspiele belustigen.
Herr Dr. Brahm sagt beschönigend von Szenen, wie sie sich auf der freien
Bühne abspielten, daß in ihnen die Kunst der Natur um einen Schritt näher
komme. Man soll den Namen der Kunst nicht unnützlich führen; in jener
Szene findet eine so abscheuliche Verschmelzung statt, wie sie selbst in den
alten, uur von und vor Männern aufgeführten Hetürenkomödien nicht vor¬
kommt. Die Komödien des Aristophanes gehören nicht hierher; seine Größe
beruht übrigens in ganz andern Dingen als in seinen Sitteulvsigkeiten.

Mau mißverstehe mich nicht, als ob ich der Ansicht wäre, das Sinnliche
sei aus dem Drama ganz zu verbannen. Kein dramatischer Dichter kann die
sinnliche Seite der menschlichen Natur verleugnen wollen; ihre Darstellung
hat volle Berechtigung und große Bedeutung überall da, wo sie mit dem
Gange der Handlung notwendig verknüpft ist. Wenn ich von meinen eignen
Sachen reden darf, so bin ich ihm nie ans dein Wege gegangen, und ich er¬
laube mir, auch für mich als Dramatiker auf die Bezeichnung naturalistisch
Anspruch zu mache», insofern darunter nichts andres zu verstehen ist als das
naturwahre. Aber es giebt eben einen Unterschied zwischen dem Sinnlichen
und dem Gemeinen, zwischen dein feinen Witz und der groben Zote.

Die große dramatische Kunst, der auf der freien Bühne die Wege geebnet
werden sollten, liegt nicht auf dem Wege des modernen Naturalismus; sie
bedarf andrer Stoffe als der aus dem Sumpfe hervor geholten: sie bedarf
großer Menschen und großer Handlungen. Das lehrt ihre ganze Entwicklung
von ihren ersten Anfängen bis jetzt, durch einen Zeitraum von 2400 Jahren
hindurch, und darin hat sich in keiner Periode und bei keinem Bolle etwas


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[0327] Die freie Buhne und der Naturalismus Dr. Brahm alle der Prüderie und Heuchelei beschuldigt, die sich dagegen auf¬ lehnen, dann geht er viel zu weit, und wenn er verlangt, daß mau ihm mit der Moralität vom Halse bleiben solle, dann wäre darauf zu erwidern, daß in dieser Frage, wenn auch uicht die Moralität, umso mehr aber die Sittlich¬ keit mitzusprechen hat. In jenem Punkte, wo das Reinmenschliche und das Tierische so nahe zusammen liegen, wo die höchsten Empfindungen und die niedrigsten und gemeinsten sich mit den Wnrzelenden berühren, da ist es nach meiner Überzeugung verwerflich, das Tierische so hervor zu kehren, daß es den Anschein gewinnen muß, als wolle der Verfasser absichtlich dem sittlichen Gefühl der Zuschauer einen Schlag versetzen. Inzwischen hat die freie Bühne an sämtlichen übrigen Theatern Mitschuldige bekommen. Die überall auf¬ geführte Haubenlerche geht bis zur Rotznase vor den Augen des Publikums. Das war selbst dem goldnen Esel des Apulejus bei ähnlichem Anlaß zu starker Tabak: er nahm Reißaus. Solche Stücke gehören nicht in die Theater, wo junge Mütter und junge Töchter auf den Zuschauerbänken sitzen; man müßte, wie im Altertum und im alten England, dem weiblichen Geschlechte den Zu¬ tritt gänzlich untersagen. Die Krapüle, die alsdann noch die Räume füllte, könnte sich, wie sie wollte, an dem widerwärtigen Schauspiele belustigen. Herr Dr. Brahm sagt beschönigend von Szenen, wie sie sich auf der freien Bühne abspielten, daß in ihnen die Kunst der Natur um einen Schritt näher komme. Man soll den Namen der Kunst nicht unnützlich führen; in jener Szene findet eine so abscheuliche Verschmelzung statt, wie sie selbst in den alten, uur von und vor Männern aufgeführten Hetürenkomödien nicht vor¬ kommt. Die Komödien des Aristophanes gehören nicht hierher; seine Größe beruht übrigens in ganz andern Dingen als in seinen Sitteulvsigkeiten. Mau mißverstehe mich nicht, als ob ich der Ansicht wäre, das Sinnliche sei aus dem Drama ganz zu verbannen. Kein dramatischer Dichter kann die sinnliche Seite der menschlichen Natur verleugnen wollen; ihre Darstellung hat volle Berechtigung und große Bedeutung überall da, wo sie mit dem Gange der Handlung notwendig verknüpft ist. Wenn ich von meinen eignen Sachen reden darf, so bin ich ihm nie ans dein Wege gegangen, und ich er¬ laube mir, auch für mich als Dramatiker auf die Bezeichnung naturalistisch Anspruch zu mache», insofern darunter nichts andres zu verstehen ist als das naturwahre. Aber es giebt eben einen Unterschied zwischen dem Sinnlichen und dem Gemeinen, zwischen dein feinen Witz und der groben Zote. Die große dramatische Kunst, der auf der freien Bühne die Wege geebnet werden sollten, liegt nicht auf dem Wege des modernen Naturalismus; sie bedarf andrer Stoffe als der aus dem Sumpfe hervor geholten: sie bedarf großer Menschen und großer Handlungen. Das lehrt ihre ganze Entwicklung von ihren ersten Anfängen bis jetzt, durch einen Zeitraum von 2400 Jahren hindurch, und darin hat sich in keiner Periode und bei keinem Bolle etwas

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/327>, abgerufen am 26.08.2024.