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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die freie Bühne und der Naturalismus

geändert. Es ist ein Gesetz von ewiger Giltigkeit, wie ich auch die von
Aristoteles für die Tragödie aufgestellte Forderung von der Reinigung der
Leidenschaften -- eine Forderung, an der man so viel herumgedentelt hat,
und die doch so einfach zu verstehen ist, wenn man sie nicht mit Gewalt ver¬
dunkelt -- für dauernd giltig halte. Ihre Erfüllung bildet sogar, nach
meiner Auffassung, eines der oben besprochene" unwandelbaren Grundelemente,
das vorhanden sein muß, um die Tragödie zur Tragödie, das heißt zu einem
tragischen Kunstwerke zu macheu. Die von Herr Dr. Brechen in Parallele
gezogenen Schillerschen Räuber thun dies vollständig; die Stücke der freien
Bühne scheinen eher eine entgegengesetzte Wirkung ausgeübt zu haben.

Nicht einmal in den bürgerlichen Kreisen, deren ganzes Denken und Thun
nicht über die bürgerlichen Schranken hinausgeht, darf man nach Stoffen für
die große dramatische Kunst suchen. Es giebt Wohl bürgerliche Trauerspiele,
aber es giebt keine bürgerliche" Tragödien. Das Schillersche Epigramm
"Shakespeares Schatten" trifft auch heute noch zu, oder vielmehr heute erst
recht, in viel ausgedehnterem und schlimmeren Maße:


Was? es dürfte kein Cäsar auf eurer Bühne sich zeigen?
Kein Achill, kein Orest, keine Andromache mehr?

Nichts -- man siehet bei uns nur Pfarrer, Kommerzienräte,
Fähndriche, Sekretärs oder Husarenmajors.

Aber ich bitte dich, Freund, was kann denn dieser Misere
Großes begegnen, was kann Großes denn durch sie geschehn?

Was? sie machen Kabale, sie leihen auf Pfänder, sie stecken
Silberne Löffel ein, wagen den Pranger und mehr.

Woher nehmt ihr denn aber das große gigantische Schicksal,
Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt?

Das sind Grillen. Uns selbst und unsre guten Bekannten,
Unsern Jammer und Rot suchen und finden wir hier.

Aber das habt ihr ja alles bequem und besser zu Hause;
Warum fliehet ihr euch, wenn ihr euch selber nur sucht?

Ninus nicht übel, mein Freund, das ist ein verschiedener Kasus,
Das Geschick, das ist blind, und der Poet ist gerecht.

Also eure Natur, die erbärmliche, trifft man auf euer"
Bühnen, die große nur nicht, nicht die unendliche an?

Der Poet ist der Wirt und der letzte Aktus die Zeche?
Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.


Noch eines andern Punktes wäre zu gedenken, des Einflusses des modernen
Naturalismus auf die Sprache. Um nur recht naturgetreu zu erscheinen,
überschwemmt man die Bühne mit dem Nerliuer Jargon, dem bnirischen, dem
tiroler, dein österreichischen -- wer nennt sie alle? Goethe schöpfte aus dem
Munde des Volkes, um den Sprachschatz zu bereichern; er that es in weiser
Beschränkung und wandelte die Formen um, wo es nötig schien, um sie für
den poetischen Gebrauch geschickt zu machen. Wie man uns jetzt die Platt-


Die freie Bühne und der Naturalismus

geändert. Es ist ein Gesetz von ewiger Giltigkeit, wie ich auch die von
Aristoteles für die Tragödie aufgestellte Forderung von der Reinigung der
Leidenschaften — eine Forderung, an der man so viel herumgedentelt hat,
und die doch so einfach zu verstehen ist, wenn man sie nicht mit Gewalt ver¬
dunkelt — für dauernd giltig halte. Ihre Erfüllung bildet sogar, nach
meiner Auffassung, eines der oben besprochene» unwandelbaren Grundelemente,
das vorhanden sein muß, um die Tragödie zur Tragödie, das heißt zu einem
tragischen Kunstwerke zu macheu. Die von Herr Dr. Brechen in Parallele
gezogenen Schillerschen Räuber thun dies vollständig; die Stücke der freien
Bühne scheinen eher eine entgegengesetzte Wirkung ausgeübt zu haben.

Nicht einmal in den bürgerlichen Kreisen, deren ganzes Denken und Thun
nicht über die bürgerlichen Schranken hinausgeht, darf man nach Stoffen für
die große dramatische Kunst suchen. Es giebt Wohl bürgerliche Trauerspiele,
aber es giebt keine bürgerliche« Tragödien. Das Schillersche Epigramm
„Shakespeares Schatten" trifft auch heute noch zu, oder vielmehr heute erst
recht, in viel ausgedehnterem und schlimmeren Maße:


Was? es dürfte kein Cäsar auf eurer Bühne sich zeigen?
Kein Achill, kein Orest, keine Andromache mehr?

Nichts — man siehet bei uns nur Pfarrer, Kommerzienräte,
Fähndriche, Sekretärs oder Husarenmajors.

Aber ich bitte dich, Freund, was kann denn dieser Misere
Großes begegnen, was kann Großes denn durch sie geschehn?

Was? sie machen Kabale, sie leihen auf Pfänder, sie stecken
Silberne Löffel ein, wagen den Pranger und mehr.

Woher nehmt ihr denn aber das große gigantische Schicksal,
Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt?

Das sind Grillen. Uns selbst und unsre guten Bekannten,
Unsern Jammer und Rot suchen und finden wir hier.

Aber das habt ihr ja alles bequem und besser zu Hause;
Warum fliehet ihr euch, wenn ihr euch selber nur sucht?

Ninus nicht übel, mein Freund, das ist ein verschiedener Kasus,
Das Geschick, das ist blind, und der Poet ist gerecht.

Also eure Natur, die erbärmliche, trifft man auf euer»
Bühnen, die große nur nicht, nicht die unendliche an?

Der Poet ist der Wirt und der letzte Aktus die Zeche?
Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.


Noch eines andern Punktes wäre zu gedenken, des Einflusses des modernen
Naturalismus auf die Sprache. Um nur recht naturgetreu zu erscheinen,
überschwemmt man die Bühne mit dem Nerliuer Jargon, dem bnirischen, dem
tiroler, dein österreichischen — wer nennt sie alle? Goethe schöpfte aus dem
Munde des Volkes, um den Sprachschatz zu bereichern; er that es in weiser
Beschränkung und wandelte die Formen um, wo es nötig schien, um sie für
den poetischen Gebrauch geschickt zu machen. Wie man uns jetzt die Platt-


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[0328] Die freie Bühne und der Naturalismus geändert. Es ist ein Gesetz von ewiger Giltigkeit, wie ich auch die von Aristoteles für die Tragödie aufgestellte Forderung von der Reinigung der Leidenschaften — eine Forderung, an der man so viel herumgedentelt hat, und die doch so einfach zu verstehen ist, wenn man sie nicht mit Gewalt ver¬ dunkelt — für dauernd giltig halte. Ihre Erfüllung bildet sogar, nach meiner Auffassung, eines der oben besprochene» unwandelbaren Grundelemente, das vorhanden sein muß, um die Tragödie zur Tragödie, das heißt zu einem tragischen Kunstwerke zu macheu. Die von Herr Dr. Brechen in Parallele gezogenen Schillerschen Räuber thun dies vollständig; die Stücke der freien Bühne scheinen eher eine entgegengesetzte Wirkung ausgeübt zu haben. Nicht einmal in den bürgerlichen Kreisen, deren ganzes Denken und Thun nicht über die bürgerlichen Schranken hinausgeht, darf man nach Stoffen für die große dramatische Kunst suchen. Es giebt Wohl bürgerliche Trauerspiele, aber es giebt keine bürgerliche« Tragödien. Das Schillersche Epigramm „Shakespeares Schatten" trifft auch heute noch zu, oder vielmehr heute erst recht, in viel ausgedehnterem und schlimmeren Maße: Was? es dürfte kein Cäsar auf eurer Bühne sich zeigen? Kein Achill, kein Orest, keine Andromache mehr? Nichts — man siehet bei uns nur Pfarrer, Kommerzienräte, Fähndriche, Sekretärs oder Husarenmajors. Aber ich bitte dich, Freund, was kann denn dieser Misere Großes begegnen, was kann Großes denn durch sie geschehn? Was? sie machen Kabale, sie leihen auf Pfänder, sie stecken Silberne Löffel ein, wagen den Pranger und mehr. Woher nehmt ihr denn aber das große gigantische Schicksal, Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt? Das sind Grillen. Uns selbst und unsre guten Bekannten, Unsern Jammer und Rot suchen und finden wir hier. Aber das habt ihr ja alles bequem und besser zu Hause; Warum fliehet ihr euch, wenn ihr euch selber nur sucht? Ninus nicht übel, mein Freund, das ist ein verschiedener Kasus, Das Geschick, das ist blind, und der Poet ist gerecht. Also eure Natur, die erbärmliche, trifft man auf euer» Bühnen, die große nur nicht, nicht die unendliche an? Der Poet ist der Wirt und der letzte Aktus die Zeche? Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch. Noch eines andern Punktes wäre zu gedenken, des Einflusses des modernen Naturalismus auf die Sprache. Um nur recht naturgetreu zu erscheinen, überschwemmt man die Bühne mit dem Nerliuer Jargon, dem bnirischen, dem tiroler, dein österreichischen — wer nennt sie alle? Goethe schöpfte aus dem Munde des Volkes, um den Sprachschatz zu bereichern; er that es in weiser Beschränkung und wandelte die Formen um, wo es nötig schien, um sie für den poetischen Gebrauch geschickt zu machen. Wie man uns jetzt die Platt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/328>, abgerufen am 26.08.2024.