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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die freie Bühne und der Naturalismus

vorhandenen Irrungen seines Auges unterworfen; der beobachtende Astronom
unterläßt nicht, für das eigne Auge die konstante Fehlergröße zu ermitteln,
und berichtigt darnach seine Beobachtungen. Wenn wir nur auch für die
lebendige Welt um uns unsre Veobachtungsfehler ermitteln und unsre Beob¬
achtungen darnach berichtigen könnten!

Unsern großen Dichtungen ist nicht der Vorwurf zu machen, daß sie nicht
naturwahr, also nicht naturalistisch seien. Der nach durchaus neuem tastende
moderne Naturalismus ist dadurch gezwungen, Stoffe und Menschen andern
Regionen zu entnehmen, an die bis jetzt keine Künstlerhand gerührt hat, äußer¬
lich und innerlich, seelisch genommen; sein Weg fuhrt ihn demnach nicht auf
die Höhen der menschlichen Gesellschaft, sondern in ihre Tiefen, in die ganz
versumpften oder in die Versumpfung hinabreichenden Kreise. Wenn es sich
da nur um eine Darstellung des Häßlichen handelte, so wäre vielleicht nichts
dagegen zu sagen, denn das Häßliche kann sehr wohl den Stoff für eine
künstlerische Gestaltung abgeben, wie denn eine Ästhetik des Häßlichen ihre
volle Berechtigung hat. Der Kunst der Malerei ist das Häßliche nicht fremd;
namentlich verdanken wir den Niederländern eine Reihe wertvoller Bilder, die
dieser Rubrik zuzuzählen sind, und auch im Drama, dem die Darstellung der
innern Häßlichkeit, der Mißbildung der menschlichen Seele zur Aufgabe fällt,
siud wir nicht arm daran; ich brauche nur an Shakespeares Richard III., an
Macbeth, Jago, Shylock, in den Schillerschen Räubern an Franz zu erinnern.
Allen diesen Charakteren ist ein Zug von Größe beigemischt, der unsern Anteil
erregt, ohne den wir sie nicht ertragen würden, der niemals fehlen darf, wenn
sie in den Vordergrund gestellt und zu Helden des Stückes erhoben werden.
Deshalb ist es nicht bloß unkttnstlerisch, sondern geradezu abstoßend, wenn
uralt, wie es von Ibsen in den Stützen der Gesellschaft geschehen ist, einen
ordinären Schurken und Betrüger, der ins Zuchthaus gehört, an dessen Thenter-
bclehrnng am Schlüsse niemand im Ernste glauben wird, in den Mittelpunkt
eines Dramas stellt und ihm die Rolle eines Helden zuweist. Was den
Widerspruch herausfordert, ist uicht die Darstellung des Häßlichen, sondern
des Schmutzes, der den der Versumpfung entnommenen Stoffen stets anklebt;
insbesondre die Art und Weise, wie die geschlechtlichen Beziehungen behandelt
werden. Hier liegen die so viel betonten Grenzen der Kunst; denn der Schmutz,
der Unflat läßt sich niemals zu einem Kunstwerk gestalten. Geschlechtliche
Fragen haben schon seit langen Jahren zum Überdruß die Bühne in Beschlag
genommen, als wenn unsre Zeit, die doch in so vielen Beziehungen groß ist,
von nichts anderen bewegt würde und auf diesem Gebiet ausschließlich die
treibenden Kräfte im Leben der Völker zu suchen wären! Jetzt sind wir sogar
auf dem besten Wege, in voller Nacktheit zu den alten griechischen lind römischen
Hetärenstücken zurückzukehren, die doch auch damals uur möglich waren,
weil den Frauen der Zutritt zum Theater verschlossen blieb. Wenn Herr


Die freie Bühne und der Naturalismus

vorhandenen Irrungen seines Auges unterworfen; der beobachtende Astronom
unterläßt nicht, für das eigne Auge die konstante Fehlergröße zu ermitteln,
und berichtigt darnach seine Beobachtungen. Wenn wir nur auch für die
lebendige Welt um uns unsre Veobachtungsfehler ermitteln und unsre Beob¬
achtungen darnach berichtigen könnten!

Unsern großen Dichtungen ist nicht der Vorwurf zu machen, daß sie nicht
naturwahr, also nicht naturalistisch seien. Der nach durchaus neuem tastende
moderne Naturalismus ist dadurch gezwungen, Stoffe und Menschen andern
Regionen zu entnehmen, an die bis jetzt keine Künstlerhand gerührt hat, äußer¬
lich und innerlich, seelisch genommen; sein Weg fuhrt ihn demnach nicht auf
die Höhen der menschlichen Gesellschaft, sondern in ihre Tiefen, in die ganz
versumpften oder in die Versumpfung hinabreichenden Kreise. Wenn es sich
da nur um eine Darstellung des Häßlichen handelte, so wäre vielleicht nichts
dagegen zu sagen, denn das Häßliche kann sehr wohl den Stoff für eine
künstlerische Gestaltung abgeben, wie denn eine Ästhetik des Häßlichen ihre
volle Berechtigung hat. Der Kunst der Malerei ist das Häßliche nicht fremd;
namentlich verdanken wir den Niederländern eine Reihe wertvoller Bilder, die
dieser Rubrik zuzuzählen sind, und auch im Drama, dem die Darstellung der
innern Häßlichkeit, der Mißbildung der menschlichen Seele zur Aufgabe fällt,
siud wir nicht arm daran; ich brauche nur an Shakespeares Richard III., an
Macbeth, Jago, Shylock, in den Schillerschen Räubern an Franz zu erinnern.
Allen diesen Charakteren ist ein Zug von Größe beigemischt, der unsern Anteil
erregt, ohne den wir sie nicht ertragen würden, der niemals fehlen darf, wenn
sie in den Vordergrund gestellt und zu Helden des Stückes erhoben werden.
Deshalb ist es nicht bloß unkttnstlerisch, sondern geradezu abstoßend, wenn
uralt, wie es von Ibsen in den Stützen der Gesellschaft geschehen ist, einen
ordinären Schurken und Betrüger, der ins Zuchthaus gehört, an dessen Thenter-
bclehrnng am Schlüsse niemand im Ernste glauben wird, in den Mittelpunkt
eines Dramas stellt und ihm die Rolle eines Helden zuweist. Was den
Widerspruch herausfordert, ist uicht die Darstellung des Häßlichen, sondern
des Schmutzes, der den der Versumpfung entnommenen Stoffen stets anklebt;
insbesondre die Art und Weise, wie die geschlechtlichen Beziehungen behandelt
werden. Hier liegen die so viel betonten Grenzen der Kunst; denn der Schmutz,
der Unflat läßt sich niemals zu einem Kunstwerk gestalten. Geschlechtliche
Fragen haben schon seit langen Jahren zum Überdruß die Bühne in Beschlag
genommen, als wenn unsre Zeit, die doch in so vielen Beziehungen groß ist,
von nichts anderen bewegt würde und auf diesem Gebiet ausschließlich die
treibenden Kräfte im Leben der Völker zu suchen wären! Jetzt sind wir sogar
auf dem besten Wege, in voller Nacktheit zu den alten griechischen lind römischen
Hetärenstücken zurückzukehren, die doch auch damals uur möglich waren,
weil den Frauen der Zutritt zum Theater verschlossen blieb. Wenn Herr


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[0326] Die freie Bühne und der Naturalismus vorhandenen Irrungen seines Auges unterworfen; der beobachtende Astronom unterläßt nicht, für das eigne Auge die konstante Fehlergröße zu ermitteln, und berichtigt darnach seine Beobachtungen. Wenn wir nur auch für die lebendige Welt um uns unsre Veobachtungsfehler ermitteln und unsre Beob¬ achtungen darnach berichtigen könnten! Unsern großen Dichtungen ist nicht der Vorwurf zu machen, daß sie nicht naturwahr, also nicht naturalistisch seien. Der nach durchaus neuem tastende moderne Naturalismus ist dadurch gezwungen, Stoffe und Menschen andern Regionen zu entnehmen, an die bis jetzt keine Künstlerhand gerührt hat, äußer¬ lich und innerlich, seelisch genommen; sein Weg fuhrt ihn demnach nicht auf die Höhen der menschlichen Gesellschaft, sondern in ihre Tiefen, in die ganz versumpften oder in die Versumpfung hinabreichenden Kreise. Wenn es sich da nur um eine Darstellung des Häßlichen handelte, so wäre vielleicht nichts dagegen zu sagen, denn das Häßliche kann sehr wohl den Stoff für eine künstlerische Gestaltung abgeben, wie denn eine Ästhetik des Häßlichen ihre volle Berechtigung hat. Der Kunst der Malerei ist das Häßliche nicht fremd; namentlich verdanken wir den Niederländern eine Reihe wertvoller Bilder, die dieser Rubrik zuzuzählen sind, und auch im Drama, dem die Darstellung der innern Häßlichkeit, der Mißbildung der menschlichen Seele zur Aufgabe fällt, siud wir nicht arm daran; ich brauche nur an Shakespeares Richard III., an Macbeth, Jago, Shylock, in den Schillerschen Räubern an Franz zu erinnern. Allen diesen Charakteren ist ein Zug von Größe beigemischt, der unsern Anteil erregt, ohne den wir sie nicht ertragen würden, der niemals fehlen darf, wenn sie in den Vordergrund gestellt und zu Helden des Stückes erhoben werden. Deshalb ist es nicht bloß unkttnstlerisch, sondern geradezu abstoßend, wenn uralt, wie es von Ibsen in den Stützen der Gesellschaft geschehen ist, einen ordinären Schurken und Betrüger, der ins Zuchthaus gehört, an dessen Thenter- bclehrnng am Schlüsse niemand im Ernste glauben wird, in den Mittelpunkt eines Dramas stellt und ihm die Rolle eines Helden zuweist. Was den Widerspruch herausfordert, ist uicht die Darstellung des Häßlichen, sondern des Schmutzes, der den der Versumpfung entnommenen Stoffen stets anklebt; insbesondre die Art und Weise, wie die geschlechtlichen Beziehungen behandelt werden. Hier liegen die so viel betonten Grenzen der Kunst; denn der Schmutz, der Unflat läßt sich niemals zu einem Kunstwerk gestalten. Geschlechtliche Fragen haben schon seit langen Jahren zum Überdruß die Bühne in Beschlag genommen, als wenn unsre Zeit, die doch in so vielen Beziehungen groß ist, von nichts anderen bewegt würde und auf diesem Gebiet ausschließlich die treibenden Kräfte im Leben der Völker zu suchen wären! Jetzt sind wir sogar auf dem besten Wege, in voller Nacktheit zu den alten griechischen lind römischen Hetärenstücken zurückzukehren, die doch auch damals uur möglich waren, weil den Frauen der Zutritt zum Theater verschlossen blieb. Wenn Herr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/326>, abgerufen am 26.08.2024.