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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die freie Bühne und der Naturalismus

Herr Dr. Brahm hat eine Charakteristik desselben von Anzengrnber bei¬
gefügt, die im allgemeinen darauf hinauslünft, daß unter Naturalismus die
Wahrheit zu verstehen sei. Doch die Wahrheit der Natur?, Das aber ist eine
Forderung, die solange besteht, als es eine Kunst giebt. Aber -- was ist
Wahrheit? fragte schon Pilatus. Jeder glaubt sie für sich zu haben.

Es giebt so viele Natnrwahrheiten, als es Menschen giebt, denn jeder
Einzelne steht der Natur besonders gegenüber, und auf jeden Einzelnen macht
sie einen besondern Eindruck, der selbst bei diesem Einzelnen, nach seiner Ent¬
wicklung und seinen Stimmungen, von einem Tage zum andern dem Wechsel
unterworfen ist. Wie es in dem Goethischen Gedichte heißt:


Du nun selbst! Was felsenfeste
Sich vor dir hervorgethan,
Mauern siehst du, siehst Paläste
Stets mit andern Augen nu.

Dem sozialistischen Arbeiter erscheint die Natur anders als dem Fabrik¬
herrn, den: Trauernden anders als dem Fröhlichen, dem Maler anders als
dem Dichter. Jeder zeichnet sie, wie sie sich in ihm wiederspiegelt, und jedes
Bild ist naturwahr, obgleich die Bilder unter sich nicht die mindeste Ähnlich¬
keit haben. Das Auge des Lumpensammlers, der zwei Betteljungen auf der
Straße liegen sieht, sich den Mund vollkröpfend mit Trauben und Meloneu-
schnitten, bleibt auf ihren Lumpen und ihrem widerwärtigen Schmutze haften;
Murillo sah sie mit den Augen des Malers und schuf ein entzückendes Bild.
Könnte der Lumpensammler mit Farbe und Pinsel Hantiren, er würde mit
Vorliebe das malen, was er begreift: die Lumpen, den Schmutz, die Freßgier,
und Hütte in jenen Betteljungen nur den Stoff zu einem abstoßenden und
ekelerregenden Gemälde gefunden, denn für das, was Murillo in ihnen sah:
die leuchtenden Augen, die Lebensfreude, nicht Freßgier, sondern die volle
Behaglichkeit des Genusses hätte ihm der Blick gefehlt, wie umgekehrt Murillo
kein Auge hatte für das, was jenem als das einzig Charakteristische erschienen
wäre. Welches der beiden Bilder ist nun das richtige? Ich gebe zu: keines;
die absolute Wahrheit würde in der Verschmelzung liegen.

Anzengruber will diese absolute Wahrheit; er will, wie Herr Dr. Brahm
sagt, nichts von anßen hineintragen, keine Jdealisirung, keine geistreiche
Tendenz. Aber in dem Bestreben, das alles gewaltsam abzuwehren, liegt die
Gefahr, es auch in den Fällen nicht zu sehen und zu beachten, wo es wirklich
vorhanden ist, sondern die andre Seite nur um so stärker hervortreten zu lassen,
und statt der konventionellen Lügen des Idealismus erhalten wir die konven¬
tionellen Lügen des Naturalismus, statt des Bildes vou Murillo ein Bild
des Lumpensammlers. Was ist vorzuziehen? Auch Anzengrnber kann die
Welt nur so zeichnen, wie sie ihm selbst erscheint, und ich habe das Gefühl,
als ob sie ihm zuweilen recht verzerrt erschienen sei. Jeder ist eben den stets


Die freie Bühne und der Naturalismus

Herr Dr. Brahm hat eine Charakteristik desselben von Anzengrnber bei¬
gefügt, die im allgemeinen darauf hinauslünft, daß unter Naturalismus die
Wahrheit zu verstehen sei. Doch die Wahrheit der Natur?, Das aber ist eine
Forderung, die solange besteht, als es eine Kunst giebt. Aber — was ist
Wahrheit? fragte schon Pilatus. Jeder glaubt sie für sich zu haben.

Es giebt so viele Natnrwahrheiten, als es Menschen giebt, denn jeder
Einzelne steht der Natur besonders gegenüber, und auf jeden Einzelnen macht
sie einen besondern Eindruck, der selbst bei diesem Einzelnen, nach seiner Ent¬
wicklung und seinen Stimmungen, von einem Tage zum andern dem Wechsel
unterworfen ist. Wie es in dem Goethischen Gedichte heißt:


Du nun selbst! Was felsenfeste
Sich vor dir hervorgethan,
Mauern siehst du, siehst Paläste
Stets mit andern Augen nu.

Dem sozialistischen Arbeiter erscheint die Natur anders als dem Fabrik¬
herrn, den: Trauernden anders als dem Fröhlichen, dem Maler anders als
dem Dichter. Jeder zeichnet sie, wie sie sich in ihm wiederspiegelt, und jedes
Bild ist naturwahr, obgleich die Bilder unter sich nicht die mindeste Ähnlich¬
keit haben. Das Auge des Lumpensammlers, der zwei Betteljungen auf der
Straße liegen sieht, sich den Mund vollkröpfend mit Trauben und Meloneu-
schnitten, bleibt auf ihren Lumpen und ihrem widerwärtigen Schmutze haften;
Murillo sah sie mit den Augen des Malers und schuf ein entzückendes Bild.
Könnte der Lumpensammler mit Farbe und Pinsel Hantiren, er würde mit
Vorliebe das malen, was er begreift: die Lumpen, den Schmutz, die Freßgier,
und Hütte in jenen Betteljungen nur den Stoff zu einem abstoßenden und
ekelerregenden Gemälde gefunden, denn für das, was Murillo in ihnen sah:
die leuchtenden Augen, die Lebensfreude, nicht Freßgier, sondern die volle
Behaglichkeit des Genusses hätte ihm der Blick gefehlt, wie umgekehrt Murillo
kein Auge hatte für das, was jenem als das einzig Charakteristische erschienen
wäre. Welches der beiden Bilder ist nun das richtige? Ich gebe zu: keines;
die absolute Wahrheit würde in der Verschmelzung liegen.

Anzengruber will diese absolute Wahrheit; er will, wie Herr Dr. Brahm
sagt, nichts von anßen hineintragen, keine Jdealisirung, keine geistreiche
Tendenz. Aber in dem Bestreben, das alles gewaltsam abzuwehren, liegt die
Gefahr, es auch in den Fällen nicht zu sehen und zu beachten, wo es wirklich
vorhanden ist, sondern die andre Seite nur um so stärker hervortreten zu lassen,
und statt der konventionellen Lügen des Idealismus erhalten wir die konven¬
tionellen Lügen des Naturalismus, statt des Bildes vou Murillo ein Bild
des Lumpensammlers. Was ist vorzuziehen? Auch Anzengrnber kann die
Welt nur so zeichnen, wie sie ihm selbst erscheint, und ich habe das Gefühl,
als ob sie ihm zuweilen recht verzerrt erschienen sei. Jeder ist eben den stets


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[0325] Die freie Bühne und der Naturalismus Herr Dr. Brahm hat eine Charakteristik desselben von Anzengrnber bei¬ gefügt, die im allgemeinen darauf hinauslünft, daß unter Naturalismus die Wahrheit zu verstehen sei. Doch die Wahrheit der Natur?, Das aber ist eine Forderung, die solange besteht, als es eine Kunst giebt. Aber — was ist Wahrheit? fragte schon Pilatus. Jeder glaubt sie für sich zu haben. Es giebt so viele Natnrwahrheiten, als es Menschen giebt, denn jeder Einzelne steht der Natur besonders gegenüber, und auf jeden Einzelnen macht sie einen besondern Eindruck, der selbst bei diesem Einzelnen, nach seiner Ent¬ wicklung und seinen Stimmungen, von einem Tage zum andern dem Wechsel unterworfen ist. Wie es in dem Goethischen Gedichte heißt: Du nun selbst! Was felsenfeste Sich vor dir hervorgethan, Mauern siehst du, siehst Paläste Stets mit andern Augen nu. Dem sozialistischen Arbeiter erscheint die Natur anders als dem Fabrik¬ herrn, den: Trauernden anders als dem Fröhlichen, dem Maler anders als dem Dichter. Jeder zeichnet sie, wie sie sich in ihm wiederspiegelt, und jedes Bild ist naturwahr, obgleich die Bilder unter sich nicht die mindeste Ähnlich¬ keit haben. Das Auge des Lumpensammlers, der zwei Betteljungen auf der Straße liegen sieht, sich den Mund vollkröpfend mit Trauben und Meloneu- schnitten, bleibt auf ihren Lumpen und ihrem widerwärtigen Schmutze haften; Murillo sah sie mit den Augen des Malers und schuf ein entzückendes Bild. Könnte der Lumpensammler mit Farbe und Pinsel Hantiren, er würde mit Vorliebe das malen, was er begreift: die Lumpen, den Schmutz, die Freßgier, und Hütte in jenen Betteljungen nur den Stoff zu einem abstoßenden und ekelerregenden Gemälde gefunden, denn für das, was Murillo in ihnen sah: die leuchtenden Augen, die Lebensfreude, nicht Freßgier, sondern die volle Behaglichkeit des Genusses hätte ihm der Blick gefehlt, wie umgekehrt Murillo kein Auge hatte für das, was jenem als das einzig Charakteristische erschienen wäre. Welches der beiden Bilder ist nun das richtige? Ich gebe zu: keines; die absolute Wahrheit würde in der Verschmelzung liegen. Anzengruber will diese absolute Wahrheit; er will, wie Herr Dr. Brahm sagt, nichts von anßen hineintragen, keine Jdealisirung, keine geistreiche Tendenz. Aber in dem Bestreben, das alles gewaltsam abzuwehren, liegt die Gefahr, es auch in den Fällen nicht zu sehen und zu beachten, wo es wirklich vorhanden ist, sondern die andre Seite nur um so stärker hervortreten zu lassen, und statt der konventionellen Lügen des Idealismus erhalten wir die konven¬ tionellen Lügen des Naturalismus, statt des Bildes vou Murillo ein Bild des Lumpensammlers. Was ist vorzuziehen? Auch Anzengrnber kann die Welt nur so zeichnen, wie sie ihm selbst erscheint, und ich habe das Gefühl, als ob sie ihm zuweilen recht verzerrt erschienen sei. Jeder ist eben den stets

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/325>, abgerufen am 26.08.2024.