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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die freie Buhne und der Naturalismus

in den die zerrissenen Leichname der in den Kampfspielen getöteten Gladiatoren
hinabgeschleift werden und wo sie ihrer Kleidungsstücke beraubt werden, ist die
Wiedergabe eiues so blutigen Schauspieles, daß man nur bedauern kann, daß
sich so viel Kunst zu so viel Roheit verstanden hat. Aber wenn man das
Gefühl des Ekels überwunden hat, so bleibt doch die Kunst, und diese Kunst,
die sich mit der Natur völlig in eins setzen und, wenn es not thut, sie
auch völlig überwinden kann, ist das Nachahmenswerte, nicht die Sucht nach
nervenaufregenden Stoffen. Es scheint, daß diese Lebendigkeit der malerischen
Darstellung nur im Süden erlernt werden kaun, und darum werden unsre Kunst¬
behörden wenigstens den Versuch machen müssen, unsern Kuustjüngern die
Möglichkeit zu gewähren, ihr Talent durch lungern Aufenthalt im Süden
Europas mehr zu entfalten, zu kräftigen nud zu vertiefen.




Die freie Bühne und der Naturalismus
von Friedrich Roeber

n der Juliausgabe der Westermaunschen Monatshefte teilt Herr
Dr. Otto Vrahm mit, daß die Berliner freie Bühne, deren Mit¬
begründer und deren Seele er war, keine Aufführungen mehr
veranstalten werde. Er benutzte diesen Anlaß, sich über seine
Absichten bei Errichtung der freien Bühne und das Wesen des
naturalistischen Dramas auszusprechen, wobei er zu dem Schlüsse kommt, das
deutsche Theater werde naturalistisch sein oder es werde gar nicht sein. Das
ist nicht allzu tragisch zu nehmen, da das deutsche Theater unter alleu Um¬
ständen "sein" wird, so oder so, und welche Richtung auch vorübergehend ans
ihm herrschen möge. Der Lärm, den die ganze Angelegenheit verursacht hat,
wird mit dem Schluß der Berliner Bühne nicht verschwinden, da die Eröff¬
nung andrer Bühnen derselben Art in Aussicht steht. Bei den Ansprüchen,
die für die darauf zur Darstellung gelangenden Stücke erhoben werden, daß
sie eine neue dramatische Kunst bedeuten, dürfte es von allgemeinem Interesse
sein, zu untersuchen, ob auf den Bahnen, die diese neue Kunst wandelt, die
Kunst überhaupt zu finden sei.

Herr Dr. Brahm teilt die dramatische Kunst ein in die heitre und in die
hohe, und es ist gerade die hohe Kunst, wie sie von ihm aufgefaßt wird, der


Die freie Buhne und der Naturalismus

in den die zerrissenen Leichname der in den Kampfspielen getöteten Gladiatoren
hinabgeschleift werden und wo sie ihrer Kleidungsstücke beraubt werden, ist die
Wiedergabe eiues so blutigen Schauspieles, daß man nur bedauern kann, daß
sich so viel Kunst zu so viel Roheit verstanden hat. Aber wenn man das
Gefühl des Ekels überwunden hat, so bleibt doch die Kunst, und diese Kunst,
die sich mit der Natur völlig in eins setzen und, wenn es not thut, sie
auch völlig überwinden kann, ist das Nachahmenswerte, nicht die Sucht nach
nervenaufregenden Stoffen. Es scheint, daß diese Lebendigkeit der malerischen
Darstellung nur im Süden erlernt werden kaun, und darum werden unsre Kunst¬
behörden wenigstens den Versuch machen müssen, unsern Kuustjüngern die
Möglichkeit zu gewähren, ihr Talent durch lungern Aufenthalt im Süden
Europas mehr zu entfalten, zu kräftigen nud zu vertiefen.




Die freie Bühne und der Naturalismus
von Friedrich Roeber

n der Juliausgabe der Westermaunschen Monatshefte teilt Herr
Dr. Otto Vrahm mit, daß die Berliner freie Bühne, deren Mit¬
begründer und deren Seele er war, keine Aufführungen mehr
veranstalten werde. Er benutzte diesen Anlaß, sich über seine
Absichten bei Errichtung der freien Bühne und das Wesen des
naturalistischen Dramas auszusprechen, wobei er zu dem Schlüsse kommt, das
deutsche Theater werde naturalistisch sein oder es werde gar nicht sein. Das
ist nicht allzu tragisch zu nehmen, da das deutsche Theater unter alleu Um¬
ständen „sein" wird, so oder so, und welche Richtung auch vorübergehend ans
ihm herrschen möge. Der Lärm, den die ganze Angelegenheit verursacht hat,
wird mit dem Schluß der Berliner Bühne nicht verschwinden, da die Eröff¬
nung andrer Bühnen derselben Art in Aussicht steht. Bei den Ansprüchen,
die für die darauf zur Darstellung gelangenden Stücke erhoben werden, daß
sie eine neue dramatische Kunst bedeuten, dürfte es von allgemeinem Interesse
sein, zu untersuchen, ob auf den Bahnen, die diese neue Kunst wandelt, die
Kunst überhaupt zu finden sei.

Herr Dr. Brahm teilt die dramatische Kunst ein in die heitre und in die
hohe, und es ist gerade die hohe Kunst, wie sie von ihm aufgefaßt wird, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/322>, abgerufen am 23.07.2024.