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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die freie Bühne und der Naturalismus

er die Wege hat ebnen wollen, da sie überall sonst verschlossene Thüren fand.
Es leitete ihn dabei ein idealer Drang, der unsre volle Anerkennung verdient,
gleichviel ob er irrte oder nicht, und ob der Erfolg ihm Recht gab oder ihn
verleugnete.

Auch die große Kunst der alten Schule klopft vergeblich an, denn je
länger je mehr ist die Bühne unfähig geworden, ihr eine Heimstätte zu bieten;
sie sucht die Natnrwcchrheit in Außen- und Nebendingen und erstarrt zur Un¬
bewegliche in dem Übermaß ihrer Dekorationsstücke, den geschlossenen Zim¬
mern, die man früher gar nicht kannte, dem zuweilen ungemein schwierige!: und
mühsamen Anfbnn in ander" Szenen, womit man das Ange des Zuschauers
zu täuschen sucht. Schon vor einigen Jahren habe ich in meinem Roman
"Marionetten" auf die Notwendigkeit einer Rückkehr hingewiesen und damals
dieselben Borschläge gemacht, wie sie seit kurzem von Herrn von Perfall in
München versucht werdeu, freilich ohne daß er einstweilen Nachfolger ge¬
funden hätte.

Shakespeare konnte sich zu jener universalen Große, die wir an ihm be¬
wundern, nur auf einer Bühne entwickeln, die ihn nirgends einengte, sondern
allen Eingebungen seiner Phantasie den breitesten Spielraum gewährte; er
wäre unter den jetzigen Verhältnissen ganz undenkbar. Nicht Aristoteles, auf
den Herr Dr. Brahm zurückkommt, und die von ihm für das Drama auf¬
gestellten Gesetze sind Schuld an der jetzigen Verknöcherung, sondern es ist die
Bühne selbst, die uns, ohne von Aristoteles etwas zu wissen, zu seinen drei
Einheiten, das heißt also zur alten französischen Tragödie zurückführen will.
Wie anders und wie groß die volle Freiheit auf der Bühne wirkt, das zeigt
uns deutlich das altindische Theater, das in den Fürstengärtcn aufgeschlagen
wurde und gar keine Dekorationen hatte, sondern es der Phantasie, nicht der
Zuschauer, sondern der Zuhörer überließ (schon der alte Laube sagte, das
Drama sei kein Schau-, sondern ein Hörspiel), sich die Szenerie selbst vorzu¬
stellen. Daher gestattete es, ganz im Gegensatz zum griechischen Theater, ob¬
gleich anscheinend durch das griechische erweckt und beeinflußt, seinen Dichter"
die freieste Bewegung in Raum und Zeit und erzeugte, durch diese Freiheit,
die reiche und zugleich ungemein realistische Entwicklung der indischen drama¬
tischen Litteratur. Einige Stücke, geschrieben im ersten und zweiten Jahr¬
hundert vor dem Beginn unsrer Zeitrechnung, vielleicht noch ältern Datums,
verraten eine auffallende Verwandtschaft mit Shakespeare.

Wo, wie es hier der Fall war, die Aufmerksamkeit nicht dnrch zudring¬
liche Dekorationen abgeleitet wird, da bleibt sie auf dem gesprochn".',: Worte
haften, und der Dichter kommt zu seinem vollem Rechte. Jetzt tritt er in die
dritte Linie zurück; am liebsten möchte man ihn ganz verbannen. Thcater-
litteratnr und dramatische sind zu Begriffen geworden, die sich nicht mehr
decken; es giebt eine Menge von Theaterstücken, die nichts von: Drama an sich


Die freie Bühne und der Naturalismus

er die Wege hat ebnen wollen, da sie überall sonst verschlossene Thüren fand.
Es leitete ihn dabei ein idealer Drang, der unsre volle Anerkennung verdient,
gleichviel ob er irrte oder nicht, und ob der Erfolg ihm Recht gab oder ihn
verleugnete.

Auch die große Kunst der alten Schule klopft vergeblich an, denn je
länger je mehr ist die Bühne unfähig geworden, ihr eine Heimstätte zu bieten;
sie sucht die Natnrwcchrheit in Außen- und Nebendingen und erstarrt zur Un¬
bewegliche in dem Übermaß ihrer Dekorationsstücke, den geschlossenen Zim¬
mern, die man früher gar nicht kannte, dem zuweilen ungemein schwierige!: und
mühsamen Anfbnn in ander» Szenen, womit man das Ange des Zuschauers
zu täuschen sucht. Schon vor einigen Jahren habe ich in meinem Roman
„Marionetten" auf die Notwendigkeit einer Rückkehr hingewiesen und damals
dieselben Borschläge gemacht, wie sie seit kurzem von Herrn von Perfall in
München versucht werdeu, freilich ohne daß er einstweilen Nachfolger ge¬
funden hätte.

Shakespeare konnte sich zu jener universalen Große, die wir an ihm be¬
wundern, nur auf einer Bühne entwickeln, die ihn nirgends einengte, sondern
allen Eingebungen seiner Phantasie den breitesten Spielraum gewährte; er
wäre unter den jetzigen Verhältnissen ganz undenkbar. Nicht Aristoteles, auf
den Herr Dr. Brahm zurückkommt, und die von ihm für das Drama auf¬
gestellten Gesetze sind Schuld an der jetzigen Verknöcherung, sondern es ist die
Bühne selbst, die uns, ohne von Aristoteles etwas zu wissen, zu seinen drei
Einheiten, das heißt also zur alten französischen Tragödie zurückführen will.
Wie anders und wie groß die volle Freiheit auf der Bühne wirkt, das zeigt
uns deutlich das altindische Theater, das in den Fürstengärtcn aufgeschlagen
wurde und gar keine Dekorationen hatte, sondern es der Phantasie, nicht der
Zuschauer, sondern der Zuhörer überließ (schon der alte Laube sagte, das
Drama sei kein Schau-, sondern ein Hörspiel), sich die Szenerie selbst vorzu¬
stellen. Daher gestattete es, ganz im Gegensatz zum griechischen Theater, ob¬
gleich anscheinend durch das griechische erweckt und beeinflußt, seinen Dichter»
die freieste Bewegung in Raum und Zeit und erzeugte, durch diese Freiheit,
die reiche und zugleich ungemein realistische Entwicklung der indischen drama¬
tischen Litteratur. Einige Stücke, geschrieben im ersten und zweiten Jahr¬
hundert vor dem Beginn unsrer Zeitrechnung, vielleicht noch ältern Datums,
verraten eine auffallende Verwandtschaft mit Shakespeare.

Wo, wie es hier der Fall war, die Aufmerksamkeit nicht dnrch zudring¬
liche Dekorationen abgeleitet wird, da bleibt sie auf dem gesprochn«.',: Worte
haften, und der Dichter kommt zu seinem vollem Rechte. Jetzt tritt er in die
dritte Linie zurück; am liebsten möchte man ihn ganz verbannen. Thcater-
litteratnr und dramatische sind zu Begriffen geworden, die sich nicht mehr
decken; es giebt eine Menge von Theaterstücken, die nichts von: Drama an sich


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[0323] Die freie Bühne und der Naturalismus er die Wege hat ebnen wollen, da sie überall sonst verschlossene Thüren fand. Es leitete ihn dabei ein idealer Drang, der unsre volle Anerkennung verdient, gleichviel ob er irrte oder nicht, und ob der Erfolg ihm Recht gab oder ihn verleugnete. Auch die große Kunst der alten Schule klopft vergeblich an, denn je länger je mehr ist die Bühne unfähig geworden, ihr eine Heimstätte zu bieten; sie sucht die Natnrwcchrheit in Außen- und Nebendingen und erstarrt zur Un¬ bewegliche in dem Übermaß ihrer Dekorationsstücke, den geschlossenen Zim¬ mern, die man früher gar nicht kannte, dem zuweilen ungemein schwierige!: und mühsamen Anfbnn in ander» Szenen, womit man das Ange des Zuschauers zu täuschen sucht. Schon vor einigen Jahren habe ich in meinem Roman „Marionetten" auf die Notwendigkeit einer Rückkehr hingewiesen und damals dieselben Borschläge gemacht, wie sie seit kurzem von Herrn von Perfall in München versucht werdeu, freilich ohne daß er einstweilen Nachfolger ge¬ funden hätte. Shakespeare konnte sich zu jener universalen Große, die wir an ihm be¬ wundern, nur auf einer Bühne entwickeln, die ihn nirgends einengte, sondern allen Eingebungen seiner Phantasie den breitesten Spielraum gewährte; er wäre unter den jetzigen Verhältnissen ganz undenkbar. Nicht Aristoteles, auf den Herr Dr. Brahm zurückkommt, und die von ihm für das Drama auf¬ gestellten Gesetze sind Schuld an der jetzigen Verknöcherung, sondern es ist die Bühne selbst, die uns, ohne von Aristoteles etwas zu wissen, zu seinen drei Einheiten, das heißt also zur alten französischen Tragödie zurückführen will. Wie anders und wie groß die volle Freiheit auf der Bühne wirkt, das zeigt uns deutlich das altindische Theater, das in den Fürstengärtcn aufgeschlagen wurde und gar keine Dekorationen hatte, sondern es der Phantasie, nicht der Zuschauer, sondern der Zuhörer überließ (schon der alte Laube sagte, das Drama sei kein Schau-, sondern ein Hörspiel), sich die Szenerie selbst vorzu¬ stellen. Daher gestattete es, ganz im Gegensatz zum griechischen Theater, ob¬ gleich anscheinend durch das griechische erweckt und beeinflußt, seinen Dichter» die freieste Bewegung in Raum und Zeit und erzeugte, durch diese Freiheit, die reiche und zugleich ungemein realistische Entwicklung der indischen drama¬ tischen Litteratur. Einige Stücke, geschrieben im ersten und zweiten Jahr¬ hundert vor dem Beginn unsrer Zeitrechnung, vielleicht noch ältern Datums, verraten eine auffallende Verwandtschaft mit Shakespeare. Wo, wie es hier der Fall war, die Aufmerksamkeit nicht dnrch zudring¬ liche Dekorationen abgeleitet wird, da bleibt sie auf dem gesprochn«.',: Worte haften, und der Dichter kommt zu seinem vollem Rechte. Jetzt tritt er in die dritte Linie zurück; am liebsten möchte man ihn ganz verbannen. Thcater- litteratnr und dramatische sind zu Begriffen geworden, die sich nicht mehr decken; es giebt eine Menge von Theaterstücken, die nichts von: Drama an sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/323>, abgerufen am 23.07.2024.