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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Erziehung des deutschen Studenten

zur Thür hinaus und auf die Straße lief. Ich sah die Ursache: ein Pro-
gressist, d. h. ein Mitglied der auf Änderung der akademischen Freiheit be¬
dachten Verbindungen, war vorübergegangen, ihn hatten die Sinne des Korps¬
studenten trotz der schweren Trunkenheit und mit geschlossnen Augen, wie es
schien, wahrgenommen und sich darüber empört. Er stürzte dem unglücklichen
Progressisten nach und stieß ihn in den Straßengraben; dann kehrte er zurück
und schlief mit beruhigten Gewissen ein.

Damals wohnte ich auch einigen Paukereien bei, und es traf sich, daß ich
die eine in Gesellschaft eines englischen und eines französischen Offiziers be¬
suchte. Beide waren ältere Männer, die in der Krim, in Italien und Algier
gefochten hatten, aber beide sahen der Mensur mit blitzenden Augen zu. Ein
schlanker Kurländer, Freiherr v. F., der zu dem erwähnten Korps gehörte,
ging mit einem mehr untersetzten Mitgliede eines feindlichen Korps los, und
beide waren ausgezeichnete Schläger. Der Knrlüuder führte seine Waffe höchst
elegant, aber mit zäher Ausdauer widerstand ihm der Gegner, ein Herr v. G.,
bis ihm zuletzt die Klinge des langen Fechters gerade herunter über den Kopf
fuhr und Haar und Haut vom Wirbel bis zur Stirn durchschnitt. Der eng¬
lische Offizier war entzückt und versicherte eifrig, wenn er Söhne hätte und in
Deutschland lebte, sollten seine Söhne nirgends anders als in einem Korps
erzogen werden. Der französische kratzte sich, vielleicht im ahnungsvollen Vor¬
gefühl der Jahre 1870 und 1871, hinter dem Ohre, als er sah, welche Hiebe
hier in Deutschland schon im Spiel ausgetauscht wurden.

Auch getrunken wurde, obwohl das Bier damals bei weitem noch nicht
so gut war wie heutzutage, wenigstens nicht außerhalb Baierns, bei den
Korps so tüchtig, daß es die Verwunderung der Uneingeweihten erregen mußte.
Das Biertrinken ist bei den Studenten bekanntlich Sache der Ehre und der
Pflicht nud dient sonderbarerweise auch als Strafe. Daß im allgemeinen
schon die Erfüllung der Anforderungen von Pflicht und Ehre für die meisten
Menschen eine Strafe ist, die sie gezwungen entrichten, während sie nur bei
sehr wenigen als wonniger Ausfluß ihrer Herzensbedürfnisse gelten kann, liegt
in der allgemeinen Schwäche der menschlichen Natur begründet, die nach dem
Angenehmen trachtet und mir mit Mühe die Tugend als das allem wahre
und dauerhafte Angenehme erkennt. Aber daß im besondern anch das Bier-
trinken durch das Zeremoniell studentischen Daseins zu einer Sache geworden
ist, die zugleich Pflicht und Strafe bedeutet, bleibt immerhin wunderlich.
Das hierbei beobachtete Zeremoniell, Bierkomment genannt, ist so künstlich,
daß der Laie, zur Teilnahme an einem Kommers eingeladen, wie man die
Trinkgelage an der Universität nennt, sich in keiner geringern Schwierigkeit
huisichtlich seines angemessenen Benehmens befindet, als wäre er zu einem
Gnstmahl am kaiserlichen Hofe zu Peking geladen. Prachtvoll sitzt der alte
Bursche da, ein schönes Vorbild für den "bierehrlichen" jungen Nachwuchs,


Die Erziehung des deutschen Studenten

zur Thür hinaus und auf die Straße lief. Ich sah die Ursache: ein Pro-
gressist, d. h. ein Mitglied der auf Änderung der akademischen Freiheit be¬
dachten Verbindungen, war vorübergegangen, ihn hatten die Sinne des Korps¬
studenten trotz der schweren Trunkenheit und mit geschlossnen Augen, wie es
schien, wahrgenommen und sich darüber empört. Er stürzte dem unglücklichen
Progressisten nach und stieß ihn in den Straßengraben; dann kehrte er zurück
und schlief mit beruhigten Gewissen ein.

Damals wohnte ich auch einigen Paukereien bei, und es traf sich, daß ich
die eine in Gesellschaft eines englischen und eines französischen Offiziers be¬
suchte. Beide waren ältere Männer, die in der Krim, in Italien und Algier
gefochten hatten, aber beide sahen der Mensur mit blitzenden Augen zu. Ein
schlanker Kurländer, Freiherr v. F., der zu dem erwähnten Korps gehörte,
ging mit einem mehr untersetzten Mitgliede eines feindlichen Korps los, und
beide waren ausgezeichnete Schläger. Der Knrlüuder führte seine Waffe höchst
elegant, aber mit zäher Ausdauer widerstand ihm der Gegner, ein Herr v. G.,
bis ihm zuletzt die Klinge des langen Fechters gerade herunter über den Kopf
fuhr und Haar und Haut vom Wirbel bis zur Stirn durchschnitt. Der eng¬
lische Offizier war entzückt und versicherte eifrig, wenn er Söhne hätte und in
Deutschland lebte, sollten seine Söhne nirgends anders als in einem Korps
erzogen werden. Der französische kratzte sich, vielleicht im ahnungsvollen Vor¬
gefühl der Jahre 1870 und 1871, hinter dem Ohre, als er sah, welche Hiebe
hier in Deutschland schon im Spiel ausgetauscht wurden.

Auch getrunken wurde, obwohl das Bier damals bei weitem noch nicht
so gut war wie heutzutage, wenigstens nicht außerhalb Baierns, bei den
Korps so tüchtig, daß es die Verwunderung der Uneingeweihten erregen mußte.
Das Biertrinken ist bei den Studenten bekanntlich Sache der Ehre und der
Pflicht nud dient sonderbarerweise auch als Strafe. Daß im allgemeinen
schon die Erfüllung der Anforderungen von Pflicht und Ehre für die meisten
Menschen eine Strafe ist, die sie gezwungen entrichten, während sie nur bei
sehr wenigen als wonniger Ausfluß ihrer Herzensbedürfnisse gelten kann, liegt
in der allgemeinen Schwäche der menschlichen Natur begründet, die nach dem
Angenehmen trachtet und mir mit Mühe die Tugend als das allem wahre
und dauerhafte Angenehme erkennt. Aber daß im besondern anch das Bier-
trinken durch das Zeremoniell studentischen Daseins zu einer Sache geworden
ist, die zugleich Pflicht und Strafe bedeutet, bleibt immerhin wunderlich.
Das hierbei beobachtete Zeremoniell, Bierkomment genannt, ist so künstlich,
daß der Laie, zur Teilnahme an einem Kommers eingeladen, wie man die
Trinkgelage an der Universität nennt, sich in keiner geringern Schwierigkeit
huisichtlich seines angemessenen Benehmens befindet, als wäre er zu einem
Gnstmahl am kaiserlichen Hofe zu Peking geladen. Prachtvoll sitzt der alte
Bursche da, ein schönes Vorbild für den „bierehrlichen" jungen Nachwuchs,


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[0029] Die Erziehung des deutschen Studenten zur Thür hinaus und auf die Straße lief. Ich sah die Ursache: ein Pro- gressist, d. h. ein Mitglied der auf Änderung der akademischen Freiheit be¬ dachten Verbindungen, war vorübergegangen, ihn hatten die Sinne des Korps¬ studenten trotz der schweren Trunkenheit und mit geschlossnen Augen, wie es schien, wahrgenommen und sich darüber empört. Er stürzte dem unglücklichen Progressisten nach und stieß ihn in den Straßengraben; dann kehrte er zurück und schlief mit beruhigten Gewissen ein. Damals wohnte ich auch einigen Paukereien bei, und es traf sich, daß ich die eine in Gesellschaft eines englischen und eines französischen Offiziers be¬ suchte. Beide waren ältere Männer, die in der Krim, in Italien und Algier gefochten hatten, aber beide sahen der Mensur mit blitzenden Augen zu. Ein schlanker Kurländer, Freiherr v. F., der zu dem erwähnten Korps gehörte, ging mit einem mehr untersetzten Mitgliede eines feindlichen Korps los, und beide waren ausgezeichnete Schläger. Der Knrlüuder führte seine Waffe höchst elegant, aber mit zäher Ausdauer widerstand ihm der Gegner, ein Herr v. G., bis ihm zuletzt die Klinge des langen Fechters gerade herunter über den Kopf fuhr und Haar und Haut vom Wirbel bis zur Stirn durchschnitt. Der eng¬ lische Offizier war entzückt und versicherte eifrig, wenn er Söhne hätte und in Deutschland lebte, sollten seine Söhne nirgends anders als in einem Korps erzogen werden. Der französische kratzte sich, vielleicht im ahnungsvollen Vor¬ gefühl der Jahre 1870 und 1871, hinter dem Ohre, als er sah, welche Hiebe hier in Deutschland schon im Spiel ausgetauscht wurden. Auch getrunken wurde, obwohl das Bier damals bei weitem noch nicht so gut war wie heutzutage, wenigstens nicht außerhalb Baierns, bei den Korps so tüchtig, daß es die Verwunderung der Uneingeweihten erregen mußte. Das Biertrinken ist bei den Studenten bekanntlich Sache der Ehre und der Pflicht nud dient sonderbarerweise auch als Strafe. Daß im allgemeinen schon die Erfüllung der Anforderungen von Pflicht und Ehre für die meisten Menschen eine Strafe ist, die sie gezwungen entrichten, während sie nur bei sehr wenigen als wonniger Ausfluß ihrer Herzensbedürfnisse gelten kann, liegt in der allgemeinen Schwäche der menschlichen Natur begründet, die nach dem Angenehmen trachtet und mir mit Mühe die Tugend als das allem wahre und dauerhafte Angenehme erkennt. Aber daß im besondern anch das Bier- trinken durch das Zeremoniell studentischen Daseins zu einer Sache geworden ist, die zugleich Pflicht und Strafe bedeutet, bleibt immerhin wunderlich. Das hierbei beobachtete Zeremoniell, Bierkomment genannt, ist so künstlich, daß der Laie, zur Teilnahme an einem Kommers eingeladen, wie man die Trinkgelage an der Universität nennt, sich in keiner geringern Schwierigkeit huisichtlich seines angemessenen Benehmens befindet, als wäre er zu einem Gnstmahl am kaiserlichen Hofe zu Peking geladen. Prachtvoll sitzt der alte Bursche da, ein schönes Vorbild für den „bierehrlichen" jungen Nachwuchs,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/29>, abgerufen am 23.07.2024.