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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

ja auf mehrere Jahrhunderte hinaus bestimmend, gebietend, bildend und schaffend
gewirkt haben, aus den geschichtlichen Bedingungen, an die ihr zeitliches Dasein
und Wirken geknüpft war, erklaren zu wollen, wie es gekommen sei und
notwendig habe kommen müssen, daß ein Geist dieser Art mit diesen Gaben,
mit diesen Richtungen, mit dieser Wirksamkeit eben in dieser Zeit erschienen sei.
Es sei Vermessenheit, die, so geistreich sie scheine, im tiefsten Grunde auf einer
mechanischen, um nicht zu sagen rohen Ansicht von den: geistigen Leben der
Menschheit, des Ganzen wie der Individuen, beruhe, als sei der menschliche
Geist nur ein Produkt der Zeitverhältnisse, mir ein Facit aus vorher gegebenen
Summanden, eine Ziffer, die eine Stufe weiter abermals zum Summanden
werde, um ein neues Facit zu ziehen, eine Formel, aller Eigentümlichkeit, aller
Selbständigkeit, alles Willens, alles Geheimnisses entkleidet; in ihr schlüge die
Wahrheit, in der wir als Christen unser Heil und unsern Trost fänden, in
den heillosesten und trostlosesten, vollkommen krassen und finstern phantastischen
Determinismus um.

Die moralisirende Kritik weist seltsamerweise in Frankreich, trotz oder viel¬
leicht gerade wegen des Naturalismus, der die Moral und die Kunst für völlig
getrennte Gebiete hält, eine große Zahl von Anhängern uns, und Zeitschriften
wie die LibliMiöauv uiüvsi'KsUiz, die Rövuo vlrrvtiönno, die ü.sono an?8 cieux
inonäss u. a. bleiben ihren sittlichen Grundsätzen auch heute uoch getreu. In
Deutschland verliert sie immer mehr an Boden, besonders unter dem Einflüsse
der realistische" Richtung, die sich in unsrer Tagespresse breit macht und über
den frommen Glaubenseifer und die altvaterische Kunstmoral herfällt, ohne
zu wissen, daß auch Lessing, ihr Muster und Abgott, die moralische Schönheit
einer Dichtung über die künstlerische setzte. Die Stelle, worin Lessing diese
Ansicht ausspricht, ist so wenig bekannt, daß ich sie hier einfügen muß.
Er sagt in seiner Abhandlung über Plautus i "Ich nenne das schönste Lustspiel
uicht dasjenige, welches am wahrscheinlichsten und regelmäßigsten ist; uicht
das, welches die sinnreichsten Gedanken, die artigsten Einfälle, die angenehmsten
Scherze, die künstlichsten Verwicklungen und die natürlichsten Auflösungen hat,
sondern das schönste Lustspiel nenne ich dasjenige, welches seiner Absicht am
nächsten kommt, zumal wenn es die angeführten Schönheiten größtenteils
auch besitzt. Was ist aber die Absicht der Komödie? Die Sitten der Zu¬
schauer zu bilden und zu besser,:. Die Mittel, die sie dazu anwendet, sind,
daß sie das Laster verhaßt und die Tugend liebenswürdig darstellt. Weil
aber diese allzu verderbt sind, als daß diese Mittel bei ihnen anschlagen sollten,
so hat sie noch ein kräftigeres, wenn sie nämlich das Laster allezeit unglücklich
und die Tugend am Ende glücklich sein läßt."

Während der philologische Literaturhistoriker es nicht für seine Aufgabe
hält, neben seinen formalen Studien auch auf den geistigen Schönheitsgehalt
der "Sprachdenkmäler" einzugehen, und der Knlturhistoriker nur deu geschieht-


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

ja auf mehrere Jahrhunderte hinaus bestimmend, gebietend, bildend und schaffend
gewirkt haben, aus den geschichtlichen Bedingungen, an die ihr zeitliches Dasein
und Wirken geknüpft war, erklaren zu wollen, wie es gekommen sei und
notwendig habe kommen müssen, daß ein Geist dieser Art mit diesen Gaben,
mit diesen Richtungen, mit dieser Wirksamkeit eben in dieser Zeit erschienen sei.
Es sei Vermessenheit, die, so geistreich sie scheine, im tiefsten Grunde auf einer
mechanischen, um nicht zu sagen rohen Ansicht von den: geistigen Leben der
Menschheit, des Ganzen wie der Individuen, beruhe, als sei der menschliche
Geist nur ein Produkt der Zeitverhältnisse, mir ein Facit aus vorher gegebenen
Summanden, eine Ziffer, die eine Stufe weiter abermals zum Summanden
werde, um ein neues Facit zu ziehen, eine Formel, aller Eigentümlichkeit, aller
Selbständigkeit, alles Willens, alles Geheimnisses entkleidet; in ihr schlüge die
Wahrheit, in der wir als Christen unser Heil und unsern Trost fänden, in
den heillosesten und trostlosesten, vollkommen krassen und finstern phantastischen
Determinismus um.

Die moralisirende Kritik weist seltsamerweise in Frankreich, trotz oder viel¬
leicht gerade wegen des Naturalismus, der die Moral und die Kunst für völlig
getrennte Gebiete hält, eine große Zahl von Anhängern uns, und Zeitschriften
wie die LibliMiöauv uiüvsi'KsUiz, die Rövuo vlrrvtiönno, die ü.sono an?8 cieux
inonäss u. a. bleiben ihren sittlichen Grundsätzen auch heute uoch getreu. In
Deutschland verliert sie immer mehr an Boden, besonders unter dem Einflüsse
der realistische» Richtung, die sich in unsrer Tagespresse breit macht und über
den frommen Glaubenseifer und die altvaterische Kunstmoral herfällt, ohne
zu wissen, daß auch Lessing, ihr Muster und Abgott, die moralische Schönheit
einer Dichtung über die künstlerische setzte. Die Stelle, worin Lessing diese
Ansicht ausspricht, ist so wenig bekannt, daß ich sie hier einfügen muß.
Er sagt in seiner Abhandlung über Plautus i „Ich nenne das schönste Lustspiel
uicht dasjenige, welches am wahrscheinlichsten und regelmäßigsten ist; uicht
das, welches die sinnreichsten Gedanken, die artigsten Einfälle, die angenehmsten
Scherze, die künstlichsten Verwicklungen und die natürlichsten Auflösungen hat,
sondern das schönste Lustspiel nenne ich dasjenige, welches seiner Absicht am
nächsten kommt, zumal wenn es die angeführten Schönheiten größtenteils
auch besitzt. Was ist aber die Absicht der Komödie? Die Sitten der Zu¬
schauer zu bilden und zu besser,:. Die Mittel, die sie dazu anwendet, sind,
daß sie das Laster verhaßt und die Tugend liebenswürdig darstellt. Weil
aber diese allzu verderbt sind, als daß diese Mittel bei ihnen anschlagen sollten,
so hat sie noch ein kräftigeres, wenn sie nämlich das Laster allezeit unglücklich
und die Tugend am Ende glücklich sein läßt."

Während der philologische Literaturhistoriker es nicht für seine Aufgabe
hält, neben seinen formalen Studien auch auf den geistigen Schönheitsgehalt
der „Sprachdenkmäler" einzugehen, und der Knlturhistoriker nur deu geschieht-


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[0280] Die Aufgabe der Litteraturgeschichte ja auf mehrere Jahrhunderte hinaus bestimmend, gebietend, bildend und schaffend gewirkt haben, aus den geschichtlichen Bedingungen, an die ihr zeitliches Dasein und Wirken geknüpft war, erklaren zu wollen, wie es gekommen sei und notwendig habe kommen müssen, daß ein Geist dieser Art mit diesen Gaben, mit diesen Richtungen, mit dieser Wirksamkeit eben in dieser Zeit erschienen sei. Es sei Vermessenheit, die, so geistreich sie scheine, im tiefsten Grunde auf einer mechanischen, um nicht zu sagen rohen Ansicht von den: geistigen Leben der Menschheit, des Ganzen wie der Individuen, beruhe, als sei der menschliche Geist nur ein Produkt der Zeitverhältnisse, mir ein Facit aus vorher gegebenen Summanden, eine Ziffer, die eine Stufe weiter abermals zum Summanden werde, um ein neues Facit zu ziehen, eine Formel, aller Eigentümlichkeit, aller Selbständigkeit, alles Willens, alles Geheimnisses entkleidet; in ihr schlüge die Wahrheit, in der wir als Christen unser Heil und unsern Trost fänden, in den heillosesten und trostlosesten, vollkommen krassen und finstern phantastischen Determinismus um. Die moralisirende Kritik weist seltsamerweise in Frankreich, trotz oder viel¬ leicht gerade wegen des Naturalismus, der die Moral und die Kunst für völlig getrennte Gebiete hält, eine große Zahl von Anhängern uns, und Zeitschriften wie die LibliMiöauv uiüvsi'KsUiz, die Rövuo vlrrvtiönno, die ü.sono an?8 cieux inonäss u. a. bleiben ihren sittlichen Grundsätzen auch heute uoch getreu. In Deutschland verliert sie immer mehr an Boden, besonders unter dem Einflüsse der realistische» Richtung, die sich in unsrer Tagespresse breit macht und über den frommen Glaubenseifer und die altvaterische Kunstmoral herfällt, ohne zu wissen, daß auch Lessing, ihr Muster und Abgott, die moralische Schönheit einer Dichtung über die künstlerische setzte. Die Stelle, worin Lessing diese Ansicht ausspricht, ist so wenig bekannt, daß ich sie hier einfügen muß. Er sagt in seiner Abhandlung über Plautus i „Ich nenne das schönste Lustspiel uicht dasjenige, welches am wahrscheinlichsten und regelmäßigsten ist; uicht das, welches die sinnreichsten Gedanken, die artigsten Einfälle, die angenehmsten Scherze, die künstlichsten Verwicklungen und die natürlichsten Auflösungen hat, sondern das schönste Lustspiel nenne ich dasjenige, welches seiner Absicht am nächsten kommt, zumal wenn es die angeführten Schönheiten größtenteils auch besitzt. Was ist aber die Absicht der Komödie? Die Sitten der Zu¬ schauer zu bilden und zu besser,:. Die Mittel, die sie dazu anwendet, sind, daß sie das Laster verhaßt und die Tugend liebenswürdig darstellt. Weil aber diese allzu verderbt sind, als daß diese Mittel bei ihnen anschlagen sollten, so hat sie noch ein kräftigeres, wenn sie nämlich das Laster allezeit unglücklich und die Tugend am Ende glücklich sein läßt." Während der philologische Literaturhistoriker es nicht für seine Aufgabe hält, neben seinen formalen Studien auch auf den geistigen Schönheitsgehalt der „Sprachdenkmäler" einzugehen, und der Knlturhistoriker nur deu geschieht-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/280>, abgerufen am 26.08.2024.