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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

lieben Werdegang beurteilt, der mit den Gesetzen und den Formeln einer
Kunstphilosophie nichts zu thun hat, ist für den moralisirenden Kritiker die
ganze Ästhetik in der Sittenlehre enthalten. Das Sittliche ist, wie schon
Plato behauptet, das Schöne; nur das Sittliche darf daher Gegenstand der
Kunst sein, nur wo diese den höchsten Zwecken der Sittlichkeit und der staat¬
lichen Gesellschaft dient, hat sie ihre Daseinsberechtigung. Die Abneigung
gegen alle spekulative Philosophie, insbesondre gegen die Metaphysik des
Schönen und die darauf fußende Ästhetik, hat in Deutschland das Aufblühen
jener drei litterargeschichtlichen Richtungen außerordentlich unterstützt und der
ästhetisch-dogmatischen, die von den Romantikern und der Hegelschen Schule
ausging, immer mehr Boden weggenommen. Man ist dahintergekommen,
daß der Ursprung und das Wesen der Kunst lediglich aus der psychologischen
Natur des Menschen zu erklären ist, und daß sich also jede Ästhetik auf eine
Psychologie und nicht auf eine Metaphysik zu gründen hat. Jene schon durch
die Herbartsche und Schopenhauersche Schule erschütterte Ästhetik und die sich
darauf gründende litterarische Kritik ist in Deutschland völlig verwässert und
fristet ihr Dasein nur noch in den unzähligen illustrirten Litteraturgeschichten,
wo es weniger auf den belehrenden Text als auf die unterhaltenden Bilder
ankommt, und in deu geistreichelnden Feuilletons unsrer Tagespresse. Dagegen
zählt in Frankreich diese ästhetisch-dogmatische Richtung noch eine Menge nam¬
hafter Schriftsteller, z. B. Brunetivre, Emile Jaquet, Blaze de Bury, Frcmcisque
Sarcey, Montvgut, Cherbuliez u. s. w. Diese schließen sich mit voller Über¬
zeugung an das überlieferte Dogma der Boileauschen Kunstgesetze an; sie ver¬
werfen das philologische, kulturgeschichtliche, psychologische und moralisirende
Verfahren und erklären die Entwicklung der Litteratur nicht aus dem Zu¬
sammenwirken aller möglichen Kräfte, sondern als ein Wachstum aus sich
heraus, uns svolution an ä"zdg,n8.

Andre Anhänger dieser ästhetischen Schule, z. B. Jules Lemaltre, Andrv
Theurief, Anatole France, Weiß, Ccitulle Mendes suchen den biographisch-
psychologischen Weg Sainte-Beuves mit den Regeln und Formeln des fran¬
zösischen Klassizismus zu vereinigen; und auch die jüngste Schule der Symboliker,
die den naturalistischen Umstürzlern scharf entgegentritt, bleibt mit ihren kritischen
Grundsätzen der alten ästhetischen Auffassung getreu: ^.voir ä'aviwos uns
tllöoris as 1'u.re, aient^hör Iss gzuvres ass artistW su / olisrolmrck 1'a.xxliog.lion
av ostto Uivoriiz: xg.r esttv orni^us on xsut solgii-vir los ozuvrss orni^uvös.
O'sse eneors ig. ssulö lÄycm, aoud uns oritiHue xuisss ßtw iinx^rtials.

Zu diesen vier Richtungen der Litteraturgeschichte hat sich neuerdings
noch eine fünfte gesellt: die vergleichende Litteraturgeschichte. Ihre Anfänge
gehen zurück bis auf den Vater der Litteraturgeschichte, Daniel Morhof, der
zuerst darauf hinwies, daß man die deutsche Litteratur im Zusammenhange
mit der fremdländischen betrachten müsse; und Geister wie Lessing, Herder,


Grenzboten III 1891 S6
Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

lieben Werdegang beurteilt, der mit den Gesetzen und den Formeln einer
Kunstphilosophie nichts zu thun hat, ist für den moralisirenden Kritiker die
ganze Ästhetik in der Sittenlehre enthalten. Das Sittliche ist, wie schon
Plato behauptet, das Schöne; nur das Sittliche darf daher Gegenstand der
Kunst sein, nur wo diese den höchsten Zwecken der Sittlichkeit und der staat¬
lichen Gesellschaft dient, hat sie ihre Daseinsberechtigung. Die Abneigung
gegen alle spekulative Philosophie, insbesondre gegen die Metaphysik des
Schönen und die darauf fußende Ästhetik, hat in Deutschland das Aufblühen
jener drei litterargeschichtlichen Richtungen außerordentlich unterstützt und der
ästhetisch-dogmatischen, die von den Romantikern und der Hegelschen Schule
ausging, immer mehr Boden weggenommen. Man ist dahintergekommen,
daß der Ursprung und das Wesen der Kunst lediglich aus der psychologischen
Natur des Menschen zu erklären ist, und daß sich also jede Ästhetik auf eine
Psychologie und nicht auf eine Metaphysik zu gründen hat. Jene schon durch
die Herbartsche und Schopenhauersche Schule erschütterte Ästhetik und die sich
darauf gründende litterarische Kritik ist in Deutschland völlig verwässert und
fristet ihr Dasein nur noch in den unzähligen illustrirten Litteraturgeschichten,
wo es weniger auf den belehrenden Text als auf die unterhaltenden Bilder
ankommt, und in deu geistreichelnden Feuilletons unsrer Tagespresse. Dagegen
zählt in Frankreich diese ästhetisch-dogmatische Richtung noch eine Menge nam¬
hafter Schriftsteller, z. B. Brunetivre, Emile Jaquet, Blaze de Bury, Frcmcisque
Sarcey, Montvgut, Cherbuliez u. s. w. Diese schließen sich mit voller Über¬
zeugung an das überlieferte Dogma der Boileauschen Kunstgesetze an; sie ver¬
werfen das philologische, kulturgeschichtliche, psychologische und moralisirende
Verfahren und erklären die Entwicklung der Litteratur nicht aus dem Zu¬
sammenwirken aller möglichen Kräfte, sondern als ein Wachstum aus sich
heraus, uns svolution an ä«zdg,n8.

Andre Anhänger dieser ästhetischen Schule, z. B. Jules Lemaltre, Andrv
Theurief, Anatole France, Weiß, Ccitulle Mendes suchen den biographisch-
psychologischen Weg Sainte-Beuves mit den Regeln und Formeln des fran¬
zösischen Klassizismus zu vereinigen; und auch die jüngste Schule der Symboliker,
die den naturalistischen Umstürzlern scharf entgegentritt, bleibt mit ihren kritischen
Grundsätzen der alten ästhetischen Auffassung getreu: ^.voir ä'aviwos uns
tllöoris as 1'u.re, aient^hör Iss gzuvres ass artistW su / olisrolmrck 1'a.xxliog.lion
av ostto Uivoriiz: xg.r esttv orni^us on xsut solgii-vir los ozuvrss orni^uvös.
O'sse eneors ig. ssulö lÄycm, aoud uns oritiHue xuisss ßtw iinx^rtials.

Zu diesen vier Richtungen der Litteraturgeschichte hat sich neuerdings
noch eine fünfte gesellt: die vergleichende Litteraturgeschichte. Ihre Anfänge
gehen zurück bis auf den Vater der Litteraturgeschichte, Daniel Morhof, der
zuerst darauf hinwies, daß man die deutsche Litteratur im Zusammenhange
mit der fremdländischen betrachten müsse; und Geister wie Lessing, Herder,


Grenzboten III 1891 S6
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/281>, abgerufen am 26.08.2024.