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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

schaften von gleicher Größe in Bewegung gesetzt würden, so gelte das mit
einem moralischen Helden künstlerisch mehr als das mit einem Bösewicht. So
biegt also Taine nach einem langen, dornigen Umwege, der über die Abgründe
der Naturwissenschaft und der Philosophie hinwegführt, in die alte, bequeme
Fahrstraße der moralisirenden Naturbetrachtung ein und reicht gewissermaßen
dem vielgeschmühten Barbeh d'Aurevilly die Hand, der von dem Grundsatze
ausgeht: II vo.laikan pas eonosvoir 1a "zritiquö <zu clölwrs Ah 1a. morals
vliMisnns.

Damit kommen wir zur dritten Richtung der Litteraturgeschichte, der
christlich-moralisirenden. Diese hat in Frankreich in Edmond Scherer und in
Deutschland in Vilmar ihre Hauptvertreter gefunden; je nachdem der Verfasser
ein glaubensstarker Katholik oder ein überzeugungstreuer Protestant ist, spaltet
sie sich in zwei feindliche Gruppe", die die Litteraturgeschichte oft völlig in
den Dienst der konfessionell zugestutztem Kirchengeschichte und der parteimäßig
betriebenen Kirchenpolitik stellen. Die Litteratur ist nach der Anschauung dieser
Kritiker weniger der Ausdruck des geistigen als des religiösen Lebens, und
der wirkliche Wert des Schriftstellers und seiner Werke darf daher nach keinem
andern Maßstabe beurteilt werden, als nach den Grundsätzen und Vorschriften
des kirchlichen Dogmas. Jedes geschichtliche, ästhetische oder psychologische
Interesse an dem Kunstwerke verschwindet hier vor der einen unbeweglichen
Frage: Welche Stellung nimmt es zur christlichen Ethik oder doch zu einer
ihr gleichstehenden philosophischen Sittenlehre ein? Is rogaräs 1a, morale, sagt
Edmond Scherer, eomins an'it ^ a as plus vIsvL "t <Zg xlus important
dtauf 1a 80öl6t6, js rooonnais moins, ^no tout autrs intörvt est alö peu as
xoicls su oomxaraisvn as o"z1ni-1a. In dem religiösen Gefühl geht jedes andre
Empfinden auf, und wer den Lebensinhalt eines Menschen oder eines ganzen
Volkes künstlerisch gestalten will, der muß nach der Ansicht dieser Schule vor
allem in die Tiefe des religiösen Lebens eingedrungen sein und das Kunstwerk
um eine sittlich-christliche Idee aufbauen. "Unsre neue Dichterzeit -- sagt z. B.
Vilmar von den Klassikern -- hat sich nur gewaltsam und zu ihrem Schaden des
versöhnenden, Ziel und Nuhe gebenden Elements entschlagen, des christlichen
Elements, das sie nicht aufnehmen mochte und doch nicht ignoriren kann,
während es ihr gleich unmöglich ist, zu der plastischen Ruhe der griechischen
Heidenwelt zurückzukehren." Eine Erklärung des Kunstwerkes aus der Zeit
und den Verhältnissen wird kaum versucht. Man begnügt sich mit einer Lob¬
preisung, tadelt es, wo es über die Grenzen des Wohlanständigen und Sittlichen
hinausgeht, oder wirft es als die Verirrung eines Gottlosen völlig beiseite. Ist
die Erklärung einer künstlerisch hochstehenden Zeit nicht zu umgehen, so läßt
man sie "ans der Tiefe der göttlichen Menschenschöpfung und Menschenregieruug
entspringen, in die kein menschliches Auge reicht." Es ist nach Vilmar eine
Vermessenheit, das Wesen der größten Geister, die auf mehrere Menschenalter,


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

schaften von gleicher Größe in Bewegung gesetzt würden, so gelte das mit
einem moralischen Helden künstlerisch mehr als das mit einem Bösewicht. So
biegt also Taine nach einem langen, dornigen Umwege, der über die Abgründe
der Naturwissenschaft und der Philosophie hinwegführt, in die alte, bequeme
Fahrstraße der moralisirenden Naturbetrachtung ein und reicht gewissermaßen
dem vielgeschmühten Barbeh d'Aurevilly die Hand, der von dem Grundsatze
ausgeht: II vo.laikan pas eonosvoir 1a «zritiquö <zu clölwrs Ah 1a. morals
vliMisnns.

Damit kommen wir zur dritten Richtung der Litteraturgeschichte, der
christlich-moralisirenden. Diese hat in Frankreich in Edmond Scherer und in
Deutschland in Vilmar ihre Hauptvertreter gefunden; je nachdem der Verfasser
ein glaubensstarker Katholik oder ein überzeugungstreuer Protestant ist, spaltet
sie sich in zwei feindliche Gruppe», die die Litteraturgeschichte oft völlig in
den Dienst der konfessionell zugestutztem Kirchengeschichte und der parteimäßig
betriebenen Kirchenpolitik stellen. Die Litteratur ist nach der Anschauung dieser
Kritiker weniger der Ausdruck des geistigen als des religiösen Lebens, und
der wirkliche Wert des Schriftstellers und seiner Werke darf daher nach keinem
andern Maßstabe beurteilt werden, als nach den Grundsätzen und Vorschriften
des kirchlichen Dogmas. Jedes geschichtliche, ästhetische oder psychologische
Interesse an dem Kunstwerke verschwindet hier vor der einen unbeweglichen
Frage: Welche Stellung nimmt es zur christlichen Ethik oder doch zu einer
ihr gleichstehenden philosophischen Sittenlehre ein? Is rogaräs 1a, morale, sagt
Edmond Scherer, eomins an'it ^ a as plus vIsvL «t <Zg xlus important
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Empfinden auf, und wer den Lebensinhalt eines Menschen oder eines ganzen
Volkes künstlerisch gestalten will, der muß nach der Ansicht dieser Schule vor
allem in die Tiefe des religiösen Lebens eingedrungen sein und das Kunstwerk
um eine sittlich-christliche Idee aufbauen. „Unsre neue Dichterzeit — sagt z. B.
Vilmar von den Klassikern — hat sich nur gewaltsam und zu ihrem Schaden des
versöhnenden, Ziel und Nuhe gebenden Elements entschlagen, des christlichen
Elements, das sie nicht aufnehmen mochte und doch nicht ignoriren kann,
während es ihr gleich unmöglich ist, zu der plastischen Ruhe der griechischen
Heidenwelt zurückzukehren." Eine Erklärung des Kunstwerkes aus der Zeit
und den Verhältnissen wird kaum versucht. Man begnügt sich mit einer Lob¬
preisung, tadelt es, wo es über die Grenzen des Wohlanständigen und Sittlichen
hinausgeht, oder wirft es als die Verirrung eines Gottlosen völlig beiseite. Ist
die Erklärung einer künstlerisch hochstehenden Zeit nicht zu umgehen, so läßt
man sie „ans der Tiefe der göttlichen Menschenschöpfung und Menschenregieruug
entspringen, in die kein menschliches Auge reicht." Es ist nach Vilmar eine
Vermessenheit, das Wesen der größten Geister, die auf mehrere Menschenalter,


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[0279] Die Aufgabe der Litteraturgeschichte schaften von gleicher Größe in Bewegung gesetzt würden, so gelte das mit einem moralischen Helden künstlerisch mehr als das mit einem Bösewicht. So biegt also Taine nach einem langen, dornigen Umwege, der über die Abgründe der Naturwissenschaft und der Philosophie hinwegführt, in die alte, bequeme Fahrstraße der moralisirenden Naturbetrachtung ein und reicht gewissermaßen dem vielgeschmühten Barbeh d'Aurevilly die Hand, der von dem Grundsatze ausgeht: II vo.laikan pas eonosvoir 1a «zritiquö <zu clölwrs Ah 1a. morals vliMisnns. Damit kommen wir zur dritten Richtung der Litteraturgeschichte, der christlich-moralisirenden. Diese hat in Frankreich in Edmond Scherer und in Deutschland in Vilmar ihre Hauptvertreter gefunden; je nachdem der Verfasser ein glaubensstarker Katholik oder ein überzeugungstreuer Protestant ist, spaltet sie sich in zwei feindliche Gruppe», die die Litteraturgeschichte oft völlig in den Dienst der konfessionell zugestutztem Kirchengeschichte und der parteimäßig betriebenen Kirchenpolitik stellen. Die Litteratur ist nach der Anschauung dieser Kritiker weniger der Ausdruck des geistigen als des religiösen Lebens, und der wirkliche Wert des Schriftstellers und seiner Werke darf daher nach keinem andern Maßstabe beurteilt werden, als nach den Grundsätzen und Vorschriften des kirchlichen Dogmas. Jedes geschichtliche, ästhetische oder psychologische Interesse an dem Kunstwerke verschwindet hier vor der einen unbeweglichen Frage: Welche Stellung nimmt es zur christlichen Ethik oder doch zu einer ihr gleichstehenden philosophischen Sittenlehre ein? Is rogaräs 1a, morale, sagt Edmond Scherer, eomins an'it ^ a as plus vIsvL «t <Zg xlus important dtauf 1a 80öl6t6, js rooonnais moins, ^no tout autrs intörvt est alö peu as xoicls su oomxaraisvn as o«z1ni-1a. In dem religiösen Gefühl geht jedes andre Empfinden auf, und wer den Lebensinhalt eines Menschen oder eines ganzen Volkes künstlerisch gestalten will, der muß nach der Ansicht dieser Schule vor allem in die Tiefe des religiösen Lebens eingedrungen sein und das Kunstwerk um eine sittlich-christliche Idee aufbauen. „Unsre neue Dichterzeit — sagt z. B. Vilmar von den Klassikern — hat sich nur gewaltsam und zu ihrem Schaden des versöhnenden, Ziel und Nuhe gebenden Elements entschlagen, des christlichen Elements, das sie nicht aufnehmen mochte und doch nicht ignoriren kann, während es ihr gleich unmöglich ist, zu der plastischen Ruhe der griechischen Heidenwelt zurückzukehren." Eine Erklärung des Kunstwerkes aus der Zeit und den Verhältnissen wird kaum versucht. Man begnügt sich mit einer Lob¬ preisung, tadelt es, wo es über die Grenzen des Wohlanständigen und Sittlichen hinausgeht, oder wirft es als die Verirrung eines Gottlosen völlig beiseite. Ist die Erklärung einer künstlerisch hochstehenden Zeit nicht zu umgehen, so läßt man sie „ans der Tiefe der göttlichen Menschenschöpfung und Menschenregieruug entspringen, in die kein menschliches Auge reicht." Es ist nach Vilmar eine Vermessenheit, das Wesen der größten Geister, die auf mehrere Menschenalter,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/279>, abgerufen am 26.08.2024.