Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

Einfluß eines politischen oder gesellschaftlichen Milieu verraten und für sich
im Grunde ein völlig unberührtes abgeschlossenes Leben führen. Ist es nötig,
hierbei an die holländische Malerei des siebzehnten Jahrhunderts oder an die
französische Litteratur der Revolutionszeit zu erinnern?

Man muß es daher mit großem Vorbehalt aufnehmen, wenn Taine sagt:
I/g,8oenäg.ut, an milisu ainöns sur ig, 8esns as l'Iüstoire les a>rei8t.L8, los
xllilo8oxlls8, 1"8 rstoring.t,sur8 rsligieux, Is8 xolitia.u<Z8 0ÄxÄd1ö8 ä'intsrxr<ztör
on ä'g,<zoomx1ir ig. xon8of 60 lsur Ago se as lsur raos, oonrms it gmsns sur
ig 8vsns as 1" naturf le8 S8psss8 ä'aniumux et as xliwts3 is8 xlu8 oaxichlv8
as s'Ävosinsäsr ü, lsur Stimne et Z, Isnr 8ol.

Neben die Wirkungen der Nasse und des Milieu stellt Taine den Einfluß
des Zeitpunktes, l'Intlusnss an inoiusut. Wenn der Nationalcharakter und die
äußern Umstände auf den schöpferischen Geist wirken, so wirken sie nach seiner
Ansicht nicht auf eine leere, unbeschriebene Flache, sondern auf eine Fläche,
worin sich schon ganz bestimmte Züge ausgeprägt haben. Die Züge nehmen,
den verschiedenen Zeitverhültnisfen entsprechend, auch jedesmal eine andre Gestalt
an, und das genügt, das ganze Bild zu verändern. Derartige Verschieden¬
heiten erkennt man aus allen aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen einer
Litteratur und einer Kunst, z. B. zwischen der französischen Tragödie unter
Corneille und der unter Voltaire, zwischen dein griechischen Theater unter
Äschhlos und dem unter Euripides, zwischen der lateinischen Dichtung unter
Lucrez und der unter Claudian, zwischen der italienischen Malerei unter Lionnrdo
und der unter Guido Reni u. s. w. Es verhält sich auch hier mit einem
Volke wie mit einer Pflanze; derselbe Saft unter derselben Temperatur auf
demselben Boden erzeugt auf den verschiednen Stufen seiner allmählichen
Verarbeitung verschiedene Gebilde, Knospen, Blüten, Früchte, Samen, und zwar
in der Art, daß die folgende immer die vorhergehende zur Bedingung hat und
gleichsam aus deren Tode geboren wird.

Dieser letzte Gedanke Taines, daß die Ursache für jedes litterarische Werk
in einem vorhergehenden zu suchen sei, und die sich daraus ergebende Schlu߬
folgerung, daß also die Wirkungen der Dichterwerke auf die nachfolgenden die
eigentliche treibende Kraft der litterarischen Entwicklung sei, mit andern Worten,
daß vor allen Dingen der dichterische Geist aus deu dichterischen Geist be¬
stimmend, anregend und befruchtend wirke, ja sogar den völligen Gegensatz zur
Überlieferung erzeugen könne, diese notwendige Schlußfolgerung steht in auf¬
fallendem Widerspruch zu Taines materialistischer Schöpfungstheorie. Wenn
Taine von seiner Kritik sagt: Mio us xrsMÄit,, ni us Wräonus, sito son8we>s
se sxxlicius, so ist die Wendung verblüffend, womit Taine in das litterarische
Urteil die moralische Wertschätzung hineinträgt: das Werk, das uns einen
edeln Charakter vorführt, stehe höher als das, worin ein bösartiger Charakter
dargestellt wird; wenn in zwei Werken mit derselben dichterischen Kraft Leiden-


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

Einfluß eines politischen oder gesellschaftlichen Milieu verraten und für sich
im Grunde ein völlig unberührtes abgeschlossenes Leben führen. Ist es nötig,
hierbei an die holländische Malerei des siebzehnten Jahrhunderts oder an die
französische Litteratur der Revolutionszeit zu erinnern?

Man muß es daher mit großem Vorbehalt aufnehmen, wenn Taine sagt:
I/g,8oenäg.ut, an milisu ainöns sur ig, 8esns as l'Iüstoire les a>rei8t.L8, los
xllilo8oxlls8, 1«8 rstoring.t,sur8 rsligieux, Is8 xolitia.u<Z8 0ÄxÄd1ö8 ä'intsrxr<ztör
on ä'g,<zoomx1ir ig. xon8of 60 lsur Ago se as lsur raos, oonrms it gmsns sur
ig 8vsns as 1» naturf le8 S8psss8 ä'aniumux et as xliwts3 is8 xlu8 oaxichlv8
as s'Ävosinsäsr ü, lsur Stimne et Z, Isnr 8ol.

Neben die Wirkungen der Nasse und des Milieu stellt Taine den Einfluß
des Zeitpunktes, l'Intlusnss an inoiusut. Wenn der Nationalcharakter und die
äußern Umstände auf den schöpferischen Geist wirken, so wirken sie nach seiner
Ansicht nicht auf eine leere, unbeschriebene Flache, sondern auf eine Fläche,
worin sich schon ganz bestimmte Züge ausgeprägt haben. Die Züge nehmen,
den verschiedenen Zeitverhültnisfen entsprechend, auch jedesmal eine andre Gestalt
an, und das genügt, das ganze Bild zu verändern. Derartige Verschieden¬
heiten erkennt man aus allen aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen einer
Litteratur und einer Kunst, z. B. zwischen der französischen Tragödie unter
Corneille und der unter Voltaire, zwischen dein griechischen Theater unter
Äschhlos und dem unter Euripides, zwischen der lateinischen Dichtung unter
Lucrez und der unter Claudian, zwischen der italienischen Malerei unter Lionnrdo
und der unter Guido Reni u. s. w. Es verhält sich auch hier mit einem
Volke wie mit einer Pflanze; derselbe Saft unter derselben Temperatur auf
demselben Boden erzeugt auf den verschiednen Stufen seiner allmählichen
Verarbeitung verschiedene Gebilde, Knospen, Blüten, Früchte, Samen, und zwar
in der Art, daß die folgende immer die vorhergehende zur Bedingung hat und
gleichsam aus deren Tode geboren wird.

Dieser letzte Gedanke Taines, daß die Ursache für jedes litterarische Werk
in einem vorhergehenden zu suchen sei, und die sich daraus ergebende Schlu߬
folgerung, daß also die Wirkungen der Dichterwerke auf die nachfolgenden die
eigentliche treibende Kraft der litterarischen Entwicklung sei, mit andern Worten,
daß vor allen Dingen der dichterische Geist aus deu dichterischen Geist be¬
stimmend, anregend und befruchtend wirke, ja sogar den völligen Gegensatz zur
Überlieferung erzeugen könne, diese notwendige Schlußfolgerung steht in auf¬
fallendem Widerspruch zu Taines materialistischer Schöpfungstheorie. Wenn
Taine von seiner Kritik sagt: Mio us xrsMÄit,, ni us Wräonus, sito son8we>s
se sxxlicius, so ist die Wendung verblüffend, womit Taine in das litterarische
Urteil die moralische Wertschätzung hineinträgt: das Werk, das uns einen
edeln Charakter vorführt, stehe höher als das, worin ein bösartiger Charakter
dargestellt wird; wenn in zwei Werken mit derselben dichterischen Kraft Leiden-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0278" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290047"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Aufgabe der Litteraturgeschichte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_765" prev="#ID_764"> Einfluß eines politischen oder gesellschaftlichen Milieu verraten und für sich<lb/>
im Grunde ein völlig unberührtes abgeschlossenes Leben führen. Ist es nötig,<lb/>
hierbei an die holländische Malerei des siebzehnten Jahrhunderts oder an die<lb/>
französische Litteratur der Revolutionszeit zu erinnern?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_766"> Man muß es daher mit großem Vorbehalt aufnehmen, wenn Taine sagt:<lb/>
I/g,8oenäg.ut, an milisu ainöns sur ig, 8esns as l'Iüstoire les a&gt;rei8t.L8, los<lb/>
xllilo8oxlls8, 1«8 rstoring.t,sur8 rsligieux, Is8 xolitia.u&lt;Z8 0ÄxÄd1ö8 ä'intsrxr&lt;ztör<lb/>
on ä'g,&lt;zoomx1ir ig. xon8of 60 lsur Ago se as lsur raos, oonrms it gmsns sur<lb/>
ig 8vsns as 1» naturf le8 S8psss8 ä'aniumux et as xliwts3 is8 xlu8 oaxichlv8<lb/>
as s'Ävosinsäsr ü, lsur Stimne et Z, Isnr 8ol.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_767"> Neben die Wirkungen der Nasse und des Milieu stellt Taine den Einfluß<lb/>
des Zeitpunktes, l'Intlusnss an inoiusut. Wenn der Nationalcharakter und die<lb/>
äußern Umstände auf den schöpferischen Geist wirken, so wirken sie nach seiner<lb/>
Ansicht nicht auf eine leere, unbeschriebene Flache, sondern auf eine Fläche,<lb/>
worin sich schon ganz bestimmte Züge ausgeprägt haben. Die Züge nehmen,<lb/>
den verschiedenen Zeitverhültnisfen entsprechend, auch jedesmal eine andre Gestalt<lb/>
an, und das genügt, das ganze Bild zu verändern. Derartige Verschieden¬<lb/>
heiten erkennt man aus allen aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen einer<lb/>
Litteratur und einer Kunst, z. B. zwischen der französischen Tragödie unter<lb/>
Corneille und der unter Voltaire, zwischen dein griechischen Theater unter<lb/>
Äschhlos und dem unter Euripides, zwischen der lateinischen Dichtung unter<lb/>
Lucrez und der unter Claudian, zwischen der italienischen Malerei unter Lionnrdo<lb/>
und der unter Guido Reni u. s. w. Es verhält sich auch hier mit einem<lb/>
Volke wie mit einer Pflanze; derselbe Saft unter derselben Temperatur auf<lb/>
demselben Boden erzeugt auf den verschiednen Stufen seiner allmählichen<lb/>
Verarbeitung verschiedene Gebilde, Knospen, Blüten, Früchte, Samen, und zwar<lb/>
in der Art, daß die folgende immer die vorhergehende zur Bedingung hat und<lb/>
gleichsam aus deren Tode geboren wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_768" next="#ID_769"> Dieser letzte Gedanke Taines, daß die Ursache für jedes litterarische Werk<lb/>
in einem vorhergehenden zu suchen sei, und die sich daraus ergebende Schlu߬<lb/>
folgerung, daß also die Wirkungen der Dichterwerke auf die nachfolgenden die<lb/>
eigentliche treibende Kraft der litterarischen Entwicklung sei, mit andern Worten,<lb/>
daß vor allen Dingen der dichterische Geist aus deu dichterischen Geist be¬<lb/>
stimmend, anregend und befruchtend wirke, ja sogar den völligen Gegensatz zur<lb/>
Überlieferung erzeugen könne, diese notwendige Schlußfolgerung steht in auf¬<lb/>
fallendem Widerspruch zu Taines materialistischer Schöpfungstheorie. Wenn<lb/>
Taine von seiner Kritik sagt: Mio us xrsMÄit,, ni us Wräonus, sito son8we&gt;s<lb/>
se sxxlicius, so ist die Wendung verblüffend, womit Taine in das litterarische<lb/>
Urteil die moralische Wertschätzung hineinträgt: das Werk, das uns einen<lb/>
edeln Charakter vorführt, stehe höher als das, worin ein bösartiger Charakter<lb/>
dargestellt wird; wenn in zwei Werken mit derselben dichterischen Kraft Leiden-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0278] Die Aufgabe der Litteraturgeschichte Einfluß eines politischen oder gesellschaftlichen Milieu verraten und für sich im Grunde ein völlig unberührtes abgeschlossenes Leben führen. Ist es nötig, hierbei an die holländische Malerei des siebzehnten Jahrhunderts oder an die französische Litteratur der Revolutionszeit zu erinnern? Man muß es daher mit großem Vorbehalt aufnehmen, wenn Taine sagt: I/g,8oenäg.ut, an milisu ainöns sur ig, 8esns as l'Iüstoire les a>rei8t.L8, los xllilo8oxlls8, 1«8 rstoring.t,sur8 rsligieux, Is8 xolitia.u<Z8 0ÄxÄd1ö8 ä'intsrxr<ztör on ä'g,<zoomx1ir ig. xon8of 60 lsur Ago se as lsur raos, oonrms it gmsns sur ig 8vsns as 1» naturf le8 S8psss8 ä'aniumux et as xliwts3 is8 xlu8 oaxichlv8 as s'Ävosinsäsr ü, lsur Stimne et Z, Isnr 8ol. Neben die Wirkungen der Nasse und des Milieu stellt Taine den Einfluß des Zeitpunktes, l'Intlusnss an inoiusut. Wenn der Nationalcharakter und die äußern Umstände auf den schöpferischen Geist wirken, so wirken sie nach seiner Ansicht nicht auf eine leere, unbeschriebene Flache, sondern auf eine Fläche, worin sich schon ganz bestimmte Züge ausgeprägt haben. Die Züge nehmen, den verschiedenen Zeitverhültnisfen entsprechend, auch jedesmal eine andre Gestalt an, und das genügt, das ganze Bild zu verändern. Derartige Verschieden¬ heiten erkennt man aus allen aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen einer Litteratur und einer Kunst, z. B. zwischen der französischen Tragödie unter Corneille und der unter Voltaire, zwischen dein griechischen Theater unter Äschhlos und dem unter Euripides, zwischen der lateinischen Dichtung unter Lucrez und der unter Claudian, zwischen der italienischen Malerei unter Lionnrdo und der unter Guido Reni u. s. w. Es verhält sich auch hier mit einem Volke wie mit einer Pflanze; derselbe Saft unter derselben Temperatur auf demselben Boden erzeugt auf den verschiednen Stufen seiner allmählichen Verarbeitung verschiedene Gebilde, Knospen, Blüten, Früchte, Samen, und zwar in der Art, daß die folgende immer die vorhergehende zur Bedingung hat und gleichsam aus deren Tode geboren wird. Dieser letzte Gedanke Taines, daß die Ursache für jedes litterarische Werk in einem vorhergehenden zu suchen sei, und die sich daraus ergebende Schlu߬ folgerung, daß also die Wirkungen der Dichterwerke auf die nachfolgenden die eigentliche treibende Kraft der litterarischen Entwicklung sei, mit andern Worten, daß vor allen Dingen der dichterische Geist aus deu dichterischen Geist be¬ stimmend, anregend und befruchtend wirke, ja sogar den völligen Gegensatz zur Überlieferung erzeugen könne, diese notwendige Schlußfolgerung steht in auf¬ fallendem Widerspruch zu Taines materialistischer Schöpfungstheorie. Wenn Taine von seiner Kritik sagt: Mio us xrsMÄit,, ni us Wräonus, sito son8we>s se sxxlicius, so ist die Wendung verblüffend, womit Taine in das litterarische Urteil die moralische Wertschätzung hineinträgt: das Werk, das uns einen edeln Charakter vorführt, stehe höher als das, worin ein bösartiger Charakter dargestellt wird; wenn in zwei Werken mit derselben dichterischen Kraft Leiden-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/278
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/278>, abgerufen am 26.08.2024.