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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

das allerdings dort anerkannt werden muß, wo es sich um rein physiologische
Borgänge handelt, verliert seine Notwendigkeit, seine Gesetzmäßigkeit und
Giltigkeit, sobald man es mit dem Seelenleben und den Erzeugnissen des
Geistes zu thun hat. Gewiß lassen sich alle künstlerischen, litterarischen,
religiösen, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erscheinungen
einer Zeit in irgendwelche Beziehung zu einander und zur Rasse, zum
Lande und zur Umgebung setzen; aber niemand kann behauptet?, daß diese
Beziehungen und Beeinflussungen mit der starren Notwendigkeit eines Natur¬
gesetzes eintreten müßten. Mit dem Mangel innerer Notwendigkeit stürzt aber
das ganze ans naturwissenschaftlicher Grundlage künstlich aufgebaute Karten¬
haus der Positivistischen Litteraturgeschichte zusammen. Die Positivisten be¬
gehen denselben Fehler, den sie an den Ästhetikern nicht scharf genug zu
rügen wissen: sie ziehen aus den Erscheinungen ihre Erkenntnisse und Schlüsse
a o08dorien-i und benutzen diese alsdann unter Verallgemeinerung als Gesetze
Ä xi'iori für ihre Kritik. Durch diese Verallgemeinerung, diese Voreingenommen¬
heit und den Anspruch exakter Wissenschaftlichkeit haben die Positivisten das
wieder verdorben, was von ihnen an neuen, tiefen und fruchtbaren Gedanken
in die litterargeschichtliche Betrachtung eingeführt worden ist. Die Verirrungen
des Naturalismus und die sinnlosen Faseleien unsrer "Jüngsten" werden mit
vollem Recht als Folgen der Tainischen Kritik bezeichnet; Zola nennt ihn
nicht umsonst to ollöt' as not-rv vritMiö.

Nicht einmal das Gesetz der Rassenverschiedenheit läßt sich mit Sicherheit
auf die Schöpfungen des menschlichen Geistes anwenden; denn es giebt Kunst¬
werke und Dichtungen, die allen Nationen angehören könnten. Die Neigung,
gewisse Charakterzüge geistiger Erzeugnisse auf nationale Eigentümlichkeiten
zurückzuführen, hat schon manchen Kritiker zum Straucheln gebracht. Ein
warnendes Beispiel bieten uns die zahlreichen Erklärungen zu Herders Eid, die
in dieser Dichtung überall da, wo man in den spanischen Quellen keinen Anhalt
fand, den echten deutsch-nationalen Geist von Herders selbständiger Weise
herauserkennen wollten. Gervinus, Gödeke, Ebert, Lemcke, Düntzer u. a., sie
alle glaubten die deutschen Züge mit Sicherheit herauszufühlen, bis Reinhold
Köhler endlich nachwies, daß gerade die als echt deutsch gepriesenen Stellen,
die Herder zu den spanischen Romanzen hinzugedichtet haben sollte, nichts
andres als eine ziemlich wörtlich, zuweilen sogar fehlerhafte metrische Übersetzung
aus einer französischen Prosabearbeitung der Cidromcmzen sind, daß also der
als echt deutsch gerühmte Geist, die deutsche Auffassung und die deutsche
Gemütlichkeit, das deutsche Humanitätsideal und die deutsche Liebe von einem
echten Frauzosen des achtzehnten Jahrhunderts herrühren. Ebenso vorsichtig wie
mit diesem Gesetz der nationalen Verschiedenheiten muß der Literarhistoriker mit
dem des sogenannten Milieu verfahren, denn es giebt, wie wir schon an¬
gedeutet haben, Zeiten, wo die Litteratur und die Kunst nicht den geringsten


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

das allerdings dort anerkannt werden muß, wo es sich um rein physiologische
Borgänge handelt, verliert seine Notwendigkeit, seine Gesetzmäßigkeit und
Giltigkeit, sobald man es mit dem Seelenleben und den Erzeugnissen des
Geistes zu thun hat. Gewiß lassen sich alle künstlerischen, litterarischen,
religiösen, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erscheinungen
einer Zeit in irgendwelche Beziehung zu einander und zur Rasse, zum
Lande und zur Umgebung setzen; aber niemand kann behauptet?, daß diese
Beziehungen und Beeinflussungen mit der starren Notwendigkeit eines Natur¬
gesetzes eintreten müßten. Mit dem Mangel innerer Notwendigkeit stürzt aber
das ganze ans naturwissenschaftlicher Grundlage künstlich aufgebaute Karten¬
haus der Positivistischen Litteraturgeschichte zusammen. Die Positivisten be¬
gehen denselben Fehler, den sie an den Ästhetikern nicht scharf genug zu
rügen wissen: sie ziehen aus den Erscheinungen ihre Erkenntnisse und Schlüsse
a o08dorien-i und benutzen diese alsdann unter Verallgemeinerung als Gesetze
Ä xi'iori für ihre Kritik. Durch diese Verallgemeinerung, diese Voreingenommen¬
heit und den Anspruch exakter Wissenschaftlichkeit haben die Positivisten das
wieder verdorben, was von ihnen an neuen, tiefen und fruchtbaren Gedanken
in die litterargeschichtliche Betrachtung eingeführt worden ist. Die Verirrungen
des Naturalismus und die sinnlosen Faseleien unsrer „Jüngsten" werden mit
vollem Recht als Folgen der Tainischen Kritik bezeichnet; Zola nennt ihn
nicht umsonst to ollöt' as not-rv vritMiö.

Nicht einmal das Gesetz der Rassenverschiedenheit läßt sich mit Sicherheit
auf die Schöpfungen des menschlichen Geistes anwenden; denn es giebt Kunst¬
werke und Dichtungen, die allen Nationen angehören könnten. Die Neigung,
gewisse Charakterzüge geistiger Erzeugnisse auf nationale Eigentümlichkeiten
zurückzuführen, hat schon manchen Kritiker zum Straucheln gebracht. Ein
warnendes Beispiel bieten uns die zahlreichen Erklärungen zu Herders Eid, die
in dieser Dichtung überall da, wo man in den spanischen Quellen keinen Anhalt
fand, den echten deutsch-nationalen Geist von Herders selbständiger Weise
herauserkennen wollten. Gervinus, Gödeke, Ebert, Lemcke, Düntzer u. a., sie
alle glaubten die deutschen Züge mit Sicherheit herauszufühlen, bis Reinhold
Köhler endlich nachwies, daß gerade die als echt deutsch gepriesenen Stellen,
die Herder zu den spanischen Romanzen hinzugedichtet haben sollte, nichts
andres als eine ziemlich wörtlich, zuweilen sogar fehlerhafte metrische Übersetzung
aus einer französischen Prosabearbeitung der Cidromcmzen sind, daß also der
als echt deutsch gerühmte Geist, die deutsche Auffassung und die deutsche
Gemütlichkeit, das deutsche Humanitätsideal und die deutsche Liebe von einem
echten Frauzosen des achtzehnten Jahrhunderts herrühren. Ebenso vorsichtig wie
mit diesem Gesetz der nationalen Verschiedenheiten muß der Literarhistoriker mit
dem des sogenannten Milieu verfahren, denn es giebt, wie wir schon an¬
gedeutet haben, Zeiten, wo die Litteratur und die Kunst nicht den geringsten


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[0277] Die Aufgabe der Litteraturgeschichte das allerdings dort anerkannt werden muß, wo es sich um rein physiologische Borgänge handelt, verliert seine Notwendigkeit, seine Gesetzmäßigkeit und Giltigkeit, sobald man es mit dem Seelenleben und den Erzeugnissen des Geistes zu thun hat. Gewiß lassen sich alle künstlerischen, litterarischen, religiösen, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erscheinungen einer Zeit in irgendwelche Beziehung zu einander und zur Rasse, zum Lande und zur Umgebung setzen; aber niemand kann behauptet?, daß diese Beziehungen und Beeinflussungen mit der starren Notwendigkeit eines Natur¬ gesetzes eintreten müßten. Mit dem Mangel innerer Notwendigkeit stürzt aber das ganze ans naturwissenschaftlicher Grundlage künstlich aufgebaute Karten¬ haus der Positivistischen Litteraturgeschichte zusammen. Die Positivisten be¬ gehen denselben Fehler, den sie an den Ästhetikern nicht scharf genug zu rügen wissen: sie ziehen aus den Erscheinungen ihre Erkenntnisse und Schlüsse a o08dorien-i und benutzen diese alsdann unter Verallgemeinerung als Gesetze Ä xi'iori für ihre Kritik. Durch diese Verallgemeinerung, diese Voreingenommen¬ heit und den Anspruch exakter Wissenschaftlichkeit haben die Positivisten das wieder verdorben, was von ihnen an neuen, tiefen und fruchtbaren Gedanken in die litterargeschichtliche Betrachtung eingeführt worden ist. Die Verirrungen des Naturalismus und die sinnlosen Faseleien unsrer „Jüngsten" werden mit vollem Recht als Folgen der Tainischen Kritik bezeichnet; Zola nennt ihn nicht umsonst to ollöt' as not-rv vritMiö. Nicht einmal das Gesetz der Rassenverschiedenheit läßt sich mit Sicherheit auf die Schöpfungen des menschlichen Geistes anwenden; denn es giebt Kunst¬ werke und Dichtungen, die allen Nationen angehören könnten. Die Neigung, gewisse Charakterzüge geistiger Erzeugnisse auf nationale Eigentümlichkeiten zurückzuführen, hat schon manchen Kritiker zum Straucheln gebracht. Ein warnendes Beispiel bieten uns die zahlreichen Erklärungen zu Herders Eid, die in dieser Dichtung überall da, wo man in den spanischen Quellen keinen Anhalt fand, den echten deutsch-nationalen Geist von Herders selbständiger Weise herauserkennen wollten. Gervinus, Gödeke, Ebert, Lemcke, Düntzer u. a., sie alle glaubten die deutschen Züge mit Sicherheit herauszufühlen, bis Reinhold Köhler endlich nachwies, daß gerade die als echt deutsch gepriesenen Stellen, die Herder zu den spanischen Romanzen hinzugedichtet haben sollte, nichts andres als eine ziemlich wörtlich, zuweilen sogar fehlerhafte metrische Übersetzung aus einer französischen Prosabearbeitung der Cidromcmzen sind, daß also der als echt deutsch gerühmte Geist, die deutsche Auffassung und die deutsche Gemütlichkeit, das deutsche Humanitätsideal und die deutsche Liebe von einem echten Frauzosen des achtzehnten Jahrhunderts herrühren. Ebenso vorsichtig wie mit diesem Gesetz der nationalen Verschiedenheiten muß der Literarhistoriker mit dem des sogenannten Milieu verfahren, denn es giebt, wie wir schon an¬ gedeutet haben, Zeiten, wo die Litteratur und die Kunst nicht den geringsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/277>, abgerufen am 26.08.2024.