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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

ebenso könnte man nur dort Früchte des menschlichen Geistes erwarten, wo
die äußern Bedingungen der Nasse, der Umgebung, des Augenblicks günstig
seien.

Die unerhörte Sophistik dieses Vergleichs tritt sofort klar hervor, sobald
man das Gaukelspiel erkennt, das hier mit dem Ausdruck "Früchte" getrieben
wird. Denn bei der Pflanze wird das Wort im eigentlichen konkreten Sinne
gebraucht, von den Werken des menschlichen Geistes dagegen rein bildlich,
metaphorisch. Die Pflanzenblüte, aus der sich die Frucht mit dem Samen
für künftige Generationen entwickelt, entspricht doch bei tierischen Wesen nie
und nimmer dem Gehirn, sondern keinem andern Körperteile, als den Fort-
pflanzungsorganen. Was hat der Samen in einer Mohnkapsel mit den Ge¬
danken eines Gehirns, mit den Bildern der Phantasie, mit deu Empfindungen
der menschlichen Seele zu thun? Man sieht, Taines auf die Litteratur über¬
tragne Theorie einer angewandten Botanik ist nur durch eine gewaltsame Ver¬
renkung der Begriffe möglich. Die Notwendigkeit, den materiellen Determi¬
nismus, der im gauzeu Geschlechtsleben bei der Erzeugung und Fortpflanzung
herrscht, auch für die schöpferische Thätigkeit des menschlichen Geistes anzu¬
nehmen, ist eine völlige Verwirrung; denn dort schaffen die gesunden Organe
unabhängig von dem Bewußtsein und dem Willen des Individuums, wie bei
den Pflanzen, allerdings beständig neue, lebentragende Stoffe, deren Eigen¬
schaften ohne Frage von Nasse, Boden und Klima des Individuums abhängt;
aber ein folgerichtiges Schaffe" des Gehirns, ein künstlerisches Arbeiten des
Geistes ist ohne selbstbestimmeudes Bewußtsein, ohne klaren, sich selbst Gesetze
gebenden Willen undenkbar. Der Wille, den Taine ganz übersieht, ist gerade
der Dampf, der das Räderwerk in Bewegung setzt, neue Kräfte weckt und
dadurch andre Gedankenkreise und andre Lebensformen schafft. In dein freien,
durch kein Milieu bestimmten Willen eines Einzelnen liegt oft das ganze Ge¬
heimnis einer großen Kulturbewegung, in dem freien Willen, in der spielenden
Laune und ungreifbaren Stimmung des Künstlers und des Dichters oft das
ganze Geheimnis seines Werkes.

Sehr richtig sagt Brunetivre mit Rücksicht auf die unzähligen philo¬
logischen, kulturgeschichtlichen und Positivistischen Erklärungsversuche geistiger
Erzeugnisse und litterarischer Bewegungen: 1^ volont" g, 011 eilst, plus
pari pu'on, 1k vont Iller Airs a>ux Evolution" littörmrW. (Z'est M' un sow
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le, als8 ^rg.na88 PSN8LL8. Einem Willensakte verdankten die Gesetze des fran-
zösischen Klassizismus ihr Dasein, auf einen Willensakt sei auch die Ausbil¬
dung der französischen Romantik zwischen den Jahren 1820 und 1840 zurück¬
zuführen. Das von Taine aufgestellte Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeiten,


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

ebenso könnte man nur dort Früchte des menschlichen Geistes erwarten, wo
die äußern Bedingungen der Nasse, der Umgebung, des Augenblicks günstig
seien.

Die unerhörte Sophistik dieses Vergleichs tritt sofort klar hervor, sobald
man das Gaukelspiel erkennt, das hier mit dem Ausdruck „Früchte" getrieben
wird. Denn bei der Pflanze wird das Wort im eigentlichen konkreten Sinne
gebraucht, von den Werken des menschlichen Geistes dagegen rein bildlich,
metaphorisch. Die Pflanzenblüte, aus der sich die Frucht mit dem Samen
für künftige Generationen entwickelt, entspricht doch bei tierischen Wesen nie
und nimmer dem Gehirn, sondern keinem andern Körperteile, als den Fort-
pflanzungsorganen. Was hat der Samen in einer Mohnkapsel mit den Ge¬
danken eines Gehirns, mit den Bildern der Phantasie, mit deu Empfindungen
der menschlichen Seele zu thun? Man sieht, Taines auf die Litteratur über¬
tragne Theorie einer angewandten Botanik ist nur durch eine gewaltsame Ver¬
renkung der Begriffe möglich. Die Notwendigkeit, den materiellen Determi¬
nismus, der im gauzeu Geschlechtsleben bei der Erzeugung und Fortpflanzung
herrscht, auch für die schöpferische Thätigkeit des menschlichen Geistes anzu¬
nehmen, ist eine völlige Verwirrung; denn dort schaffen die gesunden Organe
unabhängig von dem Bewußtsein und dem Willen des Individuums, wie bei
den Pflanzen, allerdings beständig neue, lebentragende Stoffe, deren Eigen¬
schaften ohne Frage von Nasse, Boden und Klima des Individuums abhängt;
aber ein folgerichtiges Schaffe« des Gehirns, ein künstlerisches Arbeiten des
Geistes ist ohne selbstbestimmeudes Bewußtsein, ohne klaren, sich selbst Gesetze
gebenden Willen undenkbar. Der Wille, den Taine ganz übersieht, ist gerade
der Dampf, der das Räderwerk in Bewegung setzt, neue Kräfte weckt und
dadurch andre Gedankenkreise und andre Lebensformen schafft. In dein freien,
durch kein Milieu bestimmten Willen eines Einzelnen liegt oft das ganze Ge¬
heimnis einer großen Kulturbewegung, in dem freien Willen, in der spielenden
Laune und ungreifbaren Stimmung des Künstlers und des Dichters oft das
ganze Geheimnis seines Werkes.

Sehr richtig sagt Brunetivre mit Rücksicht auf die unzähligen philo¬
logischen, kulturgeschichtlichen und Positivistischen Erklärungsversuche geistiger
Erzeugnisse und litterarischer Bewegungen: 1^ volont» g, 011 eilst, plus
pari pu'on, 1k vont Iller Airs a>ux Evolution« littörmrW. (Z'est M' un sow
av voloiM (zu'ontrv 1550 vt 1560 les Ronsarä ot los Du Zivil»/, rompant
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zösischen Klassizismus ihr Dasein, auf einen Willensakt sei auch die Ausbil¬
dung der französischen Romantik zwischen den Jahren 1820 und 1840 zurück¬
zuführen. Das von Taine aufgestellte Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeiten,


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[0276] Die Aufgabe der Litteraturgeschichte ebenso könnte man nur dort Früchte des menschlichen Geistes erwarten, wo die äußern Bedingungen der Nasse, der Umgebung, des Augenblicks günstig seien. Die unerhörte Sophistik dieses Vergleichs tritt sofort klar hervor, sobald man das Gaukelspiel erkennt, das hier mit dem Ausdruck „Früchte" getrieben wird. Denn bei der Pflanze wird das Wort im eigentlichen konkreten Sinne gebraucht, von den Werken des menschlichen Geistes dagegen rein bildlich, metaphorisch. Die Pflanzenblüte, aus der sich die Frucht mit dem Samen für künftige Generationen entwickelt, entspricht doch bei tierischen Wesen nie und nimmer dem Gehirn, sondern keinem andern Körperteile, als den Fort- pflanzungsorganen. Was hat der Samen in einer Mohnkapsel mit den Ge¬ danken eines Gehirns, mit den Bildern der Phantasie, mit deu Empfindungen der menschlichen Seele zu thun? Man sieht, Taines auf die Litteratur über¬ tragne Theorie einer angewandten Botanik ist nur durch eine gewaltsame Ver¬ renkung der Begriffe möglich. Die Notwendigkeit, den materiellen Determi¬ nismus, der im gauzeu Geschlechtsleben bei der Erzeugung und Fortpflanzung herrscht, auch für die schöpferische Thätigkeit des menschlichen Geistes anzu¬ nehmen, ist eine völlige Verwirrung; denn dort schaffen die gesunden Organe unabhängig von dem Bewußtsein und dem Willen des Individuums, wie bei den Pflanzen, allerdings beständig neue, lebentragende Stoffe, deren Eigen¬ schaften ohne Frage von Nasse, Boden und Klima des Individuums abhängt; aber ein folgerichtiges Schaffe« des Gehirns, ein künstlerisches Arbeiten des Geistes ist ohne selbstbestimmeudes Bewußtsein, ohne klaren, sich selbst Gesetze gebenden Willen undenkbar. Der Wille, den Taine ganz übersieht, ist gerade der Dampf, der das Räderwerk in Bewegung setzt, neue Kräfte weckt und dadurch andre Gedankenkreise und andre Lebensformen schafft. In dein freien, durch kein Milieu bestimmten Willen eines Einzelnen liegt oft das ganze Ge¬ heimnis einer großen Kulturbewegung, in dem freien Willen, in der spielenden Laune und ungreifbaren Stimmung des Künstlers und des Dichters oft das ganze Geheimnis seines Werkes. Sehr richtig sagt Brunetivre mit Rücksicht auf die unzähligen philo¬ logischen, kulturgeschichtlichen und Positivistischen Erklärungsversuche geistiger Erzeugnisse und litterarischer Bewegungen: 1^ volont» g, 011 eilst, plus pari pu'on, 1k vont Iller Airs a>ux Evolution« littörmrW. (Z'est M' un sow av voloiM (zu'ontrv 1550 vt 1560 les Ronsarä ot los Du Zivil»/, rompant »vev I» traÄitävQ Zauloisv, ont „it1u8t.rü" I» xovsio L-g>nyA8v, est 1'ont- ronckuo o^xMe, xcmr l» xi-vwiLrö la8, as8 N'Wäv8 iM»Ap8, av« NÄiul8 mouvement« le, als8 ^rg.na88 PSN8LL8. Einem Willensakte verdankten die Gesetze des fran- zösischen Klassizismus ihr Dasein, auf einen Willensakt sei auch die Ausbil¬ dung der französischen Romantik zwischen den Jahren 1820 und 1840 zurück¬ zuführen. Das von Taine aufgestellte Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeiten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/276>, abgerufen am 26.08.2024.