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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Alte und neue Stimmen an5 England über Deutschland

Waffen hat uns die Abwesenheit nationaler Selbstüberschätzung bei den
Deutschen von jeher mit Bewunderung erfüllt."

Gedankenreich und anziehend, vielseitig und wohlwollend sind die Be¬
merkungen über unser gesellschaftliches Treiben, unser Unterrichtswesen und
über unser Heer. Dem deutschen Idealismus zollt Whitman in dem Kapitel
IlltsIIsoWal I.ike die Anerkennung, daß er die Wissenschaft aus dem Bereiche
des materiellen Gewinnes fast völlig erdrücke, "während in England ein Ge¬
lehrter um so höher geachtet wird, je mehr Geld er verdient." Wenn er
ferner auf die Thatsache hinweist, daß wir durch den kosmopolitischen Cha¬
rakter unsrer Übersetzungslitteratur und die Verbreitung völkerverbindender Ideen
alle andren Nationen übertreffen, und uns dazu Glück wünscht, daß die
Mehrzahl unsrer Gebildeten frei sei von bissotr/ und einräumt, daß "mehr
als irgendwo in Deutschland die Schulen die Wiege und die Universitäten die
Pflanzschulen für das gesamte geistige Leben bilden," und daß "alle die er¬
staunlichen Erfolge der Deutschen ohne jeglichen Wettbewerb erzielt werden,"
so berührt er damit einige sehr wesentliche Unterschiedsmerkmale, deren der
Engländer sonst nur ungern gedenkt. Sehr empfindlich muß es namentlich
drüben berührt haben, daß er das ungeheuerliche Unwesen des Prämien¬
schwindels, der auf englischen Lehranstalten herrscht, in das richtige Licht setzt.
Sein Urteil über das Heer zieht er in dem taciteischen Spruche zusammen:
.Mutlos inortg.1iuin arrms aut naiv Me<z 6ermM08 6886.

Dagegen ließen sich manche Fragezeichen hinter die Urteile setzen, die er
über den deutschen Adel, über unser Familienleben und über die deutschen
Frauen fällt. Doch auch hier wird alles gründlich und ernsthaft erörtert;
und eine gewisse Befangenheit des Urteils auf diesem Gebiete wird ja überall
fast einer patriotischen Tugend gleichgeachtet. Eine Einigung zu erzielen, ist
hier einfach eine Sache der Unmöglichkeit, wenigstens was die Frauen betrifft.

Völlig pflichten wir Whitman in allem bei, was er mit großer Anschau¬
lichkeit und silhvuetteuartiger Schärfe über deu deutschen Bierphilister sagt.
Es ist eine meisterhafte Skizze dieser spezifisch deutschen Erscheinungsform
kleinbürgerlicher Engherzigkeit und geistiger Verkümmerung, wobei jedoch nicht
zu vergessen ist, daß England seine "o"im6^8 und Frankreich seine 6xivi6r8
hat, also wie der Volkswitz sagt, "dieselbe Couleur in Grün." Es kann
Whitman auch uicht als übertriebener Nationalstolz angerechnet werden, daß
er in den zusammenfassenden Schlußbctrachtungen daran erinnert, was wir
alle gern einräumen, daß wir durch das Studium der Dinge in England viel
gelernt haben, zumal da er gleich darauf hinzusetzt: "Nun ist es aber an der
Zeit, daß wir die Eigenart der Deutschen zu ergründen suchen."

Die ideale Weltanschauung in den höhern Geistesregiouen, der materielle
Aufschwung, unsre physische Überlegenheit über die Franzosen, die Blüte unsrer
Universitäten, unsrer technischen Hochschulen und des gesamten Unterrichts, das


Grenzboten III 1891 28
Alte und neue Stimmen an5 England über Deutschland

Waffen hat uns die Abwesenheit nationaler Selbstüberschätzung bei den
Deutschen von jeher mit Bewunderung erfüllt."

Gedankenreich und anziehend, vielseitig und wohlwollend sind die Be¬
merkungen über unser gesellschaftliches Treiben, unser Unterrichtswesen und
über unser Heer. Dem deutschen Idealismus zollt Whitman in dem Kapitel
IlltsIIsoWal I.ike die Anerkennung, daß er die Wissenschaft aus dem Bereiche
des materiellen Gewinnes fast völlig erdrücke, „während in England ein Ge¬
lehrter um so höher geachtet wird, je mehr Geld er verdient." Wenn er
ferner auf die Thatsache hinweist, daß wir durch den kosmopolitischen Cha¬
rakter unsrer Übersetzungslitteratur und die Verbreitung völkerverbindender Ideen
alle andren Nationen übertreffen, und uns dazu Glück wünscht, daß die
Mehrzahl unsrer Gebildeten frei sei von bissotr/ und einräumt, daß „mehr
als irgendwo in Deutschland die Schulen die Wiege und die Universitäten die
Pflanzschulen für das gesamte geistige Leben bilden," und daß „alle die er¬
staunlichen Erfolge der Deutschen ohne jeglichen Wettbewerb erzielt werden,"
so berührt er damit einige sehr wesentliche Unterschiedsmerkmale, deren der
Engländer sonst nur ungern gedenkt. Sehr empfindlich muß es namentlich
drüben berührt haben, daß er das ungeheuerliche Unwesen des Prämien¬
schwindels, der auf englischen Lehranstalten herrscht, in das richtige Licht setzt.
Sein Urteil über das Heer zieht er in dem taciteischen Spruche zusammen:
.Mutlos inortg.1iuin arrms aut naiv Me<z 6ermM08 6886.

Dagegen ließen sich manche Fragezeichen hinter die Urteile setzen, die er
über den deutschen Adel, über unser Familienleben und über die deutschen
Frauen fällt. Doch auch hier wird alles gründlich und ernsthaft erörtert;
und eine gewisse Befangenheit des Urteils auf diesem Gebiete wird ja überall
fast einer patriotischen Tugend gleichgeachtet. Eine Einigung zu erzielen, ist
hier einfach eine Sache der Unmöglichkeit, wenigstens was die Frauen betrifft.

Völlig pflichten wir Whitman in allem bei, was er mit großer Anschau¬
lichkeit und silhvuetteuartiger Schärfe über deu deutschen Bierphilister sagt.
Es ist eine meisterhafte Skizze dieser spezifisch deutschen Erscheinungsform
kleinbürgerlicher Engherzigkeit und geistiger Verkümmerung, wobei jedoch nicht
zu vergessen ist, daß England seine «o«im6^8 und Frankreich seine 6xivi6r8
hat, also wie der Volkswitz sagt, „dieselbe Couleur in Grün." Es kann
Whitman auch uicht als übertriebener Nationalstolz angerechnet werden, daß
er in den zusammenfassenden Schlußbctrachtungen daran erinnert, was wir
alle gern einräumen, daß wir durch das Studium der Dinge in England viel
gelernt haben, zumal da er gleich darauf hinzusetzt: „Nun ist es aber an der
Zeit, daß wir die Eigenart der Deutschen zu ergründen suchen."

Die ideale Weltanschauung in den höhern Geistesregiouen, der materielle
Aufschwung, unsre physische Überlegenheit über die Franzosen, die Blüte unsrer
Universitäten, unsrer technischen Hochschulen und des gesamten Unterrichts, das


Grenzboten III 1891 28
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[0225] Alte und neue Stimmen an5 England über Deutschland Waffen hat uns die Abwesenheit nationaler Selbstüberschätzung bei den Deutschen von jeher mit Bewunderung erfüllt." Gedankenreich und anziehend, vielseitig und wohlwollend sind die Be¬ merkungen über unser gesellschaftliches Treiben, unser Unterrichtswesen und über unser Heer. Dem deutschen Idealismus zollt Whitman in dem Kapitel IlltsIIsoWal I.ike die Anerkennung, daß er die Wissenschaft aus dem Bereiche des materiellen Gewinnes fast völlig erdrücke, „während in England ein Ge¬ lehrter um so höher geachtet wird, je mehr Geld er verdient." Wenn er ferner auf die Thatsache hinweist, daß wir durch den kosmopolitischen Cha¬ rakter unsrer Übersetzungslitteratur und die Verbreitung völkerverbindender Ideen alle andren Nationen übertreffen, und uns dazu Glück wünscht, daß die Mehrzahl unsrer Gebildeten frei sei von bissotr/ und einräumt, daß „mehr als irgendwo in Deutschland die Schulen die Wiege und die Universitäten die Pflanzschulen für das gesamte geistige Leben bilden," und daß „alle die er¬ staunlichen Erfolge der Deutschen ohne jeglichen Wettbewerb erzielt werden," so berührt er damit einige sehr wesentliche Unterschiedsmerkmale, deren der Engländer sonst nur ungern gedenkt. Sehr empfindlich muß es namentlich drüben berührt haben, daß er das ungeheuerliche Unwesen des Prämien¬ schwindels, der auf englischen Lehranstalten herrscht, in das richtige Licht setzt. Sein Urteil über das Heer zieht er in dem taciteischen Spruche zusammen: .Mutlos inortg.1iuin arrms aut naiv Me<z 6ermM08 6886. Dagegen ließen sich manche Fragezeichen hinter die Urteile setzen, die er über den deutschen Adel, über unser Familienleben und über die deutschen Frauen fällt. Doch auch hier wird alles gründlich und ernsthaft erörtert; und eine gewisse Befangenheit des Urteils auf diesem Gebiete wird ja überall fast einer patriotischen Tugend gleichgeachtet. Eine Einigung zu erzielen, ist hier einfach eine Sache der Unmöglichkeit, wenigstens was die Frauen betrifft. Völlig pflichten wir Whitman in allem bei, was er mit großer Anschau¬ lichkeit und silhvuetteuartiger Schärfe über deu deutschen Bierphilister sagt. Es ist eine meisterhafte Skizze dieser spezifisch deutschen Erscheinungsform kleinbürgerlicher Engherzigkeit und geistiger Verkümmerung, wobei jedoch nicht zu vergessen ist, daß England seine «o«im6^8 und Frankreich seine 6xivi6r8 hat, also wie der Volkswitz sagt, „dieselbe Couleur in Grün." Es kann Whitman auch uicht als übertriebener Nationalstolz angerechnet werden, daß er in den zusammenfassenden Schlußbctrachtungen daran erinnert, was wir alle gern einräumen, daß wir durch das Studium der Dinge in England viel gelernt haben, zumal da er gleich darauf hinzusetzt: „Nun ist es aber an der Zeit, daß wir die Eigenart der Deutschen zu ergründen suchen." Die ideale Weltanschauung in den höhern Geistesregiouen, der materielle Aufschwung, unsre physische Überlegenheit über die Franzosen, die Blüte unsrer Universitäten, unsrer technischen Hochschulen und des gesamten Unterrichts, das Grenzboten III 1891 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/225>, abgerufen am 26.06.2024.