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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Alte und neue Stimmen aus England über Deutschland

die größere Einfachheit der französischen Verhältnisse im Gegensatze zu den
schwerer verständlichen, Verwickeltern Verhältnissen des politischen und Kultur¬
lebens in den zahlreichen Staaten des großen deutscheu Reiches und den viele"
Brennpunkten, um die sich unser geistiges Schaffen gruppirt, erleichtert dem
geschichtlich gebildeten Engländer die Beobachtung und Beurteilung französischer
Dinge. Er fühlt sich dnrch den deutschen spekulativen Idealismus geradezu
abgestoßen und empfindet, daß von der rationalistischen Nützlichkeitslehre, die
im Staat und in der Schule jenseit des Kanals herrscht, keine Brücke hinüber¬
führt zu unsrer Beschaulichkeit und der von unsern Vätern überkommenen
tiefern Weltanschauung.

Dem gegenüber verdient nun die Thatsache rückhnltslvse Anerkennung, daß
der Verfasser des Impsrig.1 Ohl-in-in^ von der Überlieferung abgewichen ist
und nicht die dem Engländer so unsympathische deutsche Kleinstndterei und
Unbeholfenheit in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt, sondern seinen
Anfenthalt dazu benutzt hat, von der Natur und Weseuseigentümlichkeit, dem
Ursprung und den Lebensbedingungen des deutschen Reiches und Volkes, von
den Beweggründe" unsrer Negiernngspolitik und schließlich unsrer Gesamt¬
kultur ein möglichst treues Bild zu entwerfen.

Die wirksamste Folie für seiue Betrachtungen bilden außer Mayhew und
Hawthvrne die Faseleien des Pseudonymen Verfassers des -tour Luli se son 11s
und das seichte Snlvngerede der bekannten Pariserin in ihrer Looivtü as Lsrlin.
Whitmau trifft meist mit richtigem Gefühl den psychologischen Kernpunkt, so
wenn er in dem. Kapitel vom deutschen Zeitungswesen sagt: "Die Deutschen denken
mehr individuell als wir Engländer" und hinzusetzt, daß der deutsche Leser
uicht durch Dick und Dünn gerade der Zeitung folge, auf die er abonnirt, was
sicherlich in England die Regel ist, auch daß er der Urheberschaft der Leit¬
artikel nachforsche und auch die gegnerischen Blätter lese, um sich vor Ein¬
seitigkeit zu bewahren, eine Selbstentäußerung, die sich kaum bei einer andern
Nation finden dürfte. Er rühmt die heilsame Dezentralisation auch auf diesem
Felde und beneidet uns um Brennpunkte wie Leipzig, Köln, München und
Frankfurt neben der nicht allzu sehr dominirenden Reichshauptstadt. Wenn
er dagegen die schwierige Kunst, gute Leitartikel zu liefern, ausschließlich den
Engländern zuzusprechen sucht, so hat er sich doch wohl geirrt, wenn wir auch
dem Dg-it^ 1'slLgrg.pli, der v-ni/ I^so" und dem LtÄiularä ihren Ruhm nicht
nehmen wollen. Mit großer Wärme wird der sittliche Ernst und das Fern¬
halten des erziehlich bedenklichen in der deutschen Presse im Gegensatz zur
französischen betont. Auch folgende Aussprüche kennzeichnen die Gesinnung
des Beobachters: "Der Chauvinismus ist kein deutsches Gebrechen. -- Wäre
Boulanger ein Deutscher, so würde er schon mich deu ersten vierundzwanzig
Stunden seiue Rolle ausgespielt haben. -- Die Deutschen sprechen selbst von
überwundenen Feinden mit Achtung. -- Angesichts der Erfolge der deutschen


Alte und neue Stimmen aus England über Deutschland

die größere Einfachheit der französischen Verhältnisse im Gegensatze zu den
schwerer verständlichen, Verwickeltern Verhältnissen des politischen und Kultur¬
lebens in den zahlreichen Staaten des großen deutscheu Reiches und den viele»
Brennpunkten, um die sich unser geistiges Schaffen gruppirt, erleichtert dem
geschichtlich gebildeten Engländer die Beobachtung und Beurteilung französischer
Dinge. Er fühlt sich dnrch den deutschen spekulativen Idealismus geradezu
abgestoßen und empfindet, daß von der rationalistischen Nützlichkeitslehre, die
im Staat und in der Schule jenseit des Kanals herrscht, keine Brücke hinüber¬
führt zu unsrer Beschaulichkeit und der von unsern Vätern überkommenen
tiefern Weltanschauung.

Dem gegenüber verdient nun die Thatsache rückhnltslvse Anerkennung, daß
der Verfasser des Impsrig.1 Ohl-in-in^ von der Überlieferung abgewichen ist
und nicht die dem Engländer so unsympathische deutsche Kleinstndterei und
Unbeholfenheit in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt, sondern seinen
Anfenthalt dazu benutzt hat, von der Natur und Weseuseigentümlichkeit, dem
Ursprung und den Lebensbedingungen des deutschen Reiches und Volkes, von
den Beweggründe» unsrer Negiernngspolitik und schließlich unsrer Gesamt¬
kultur ein möglichst treues Bild zu entwerfen.

Die wirksamste Folie für seiue Betrachtungen bilden außer Mayhew und
Hawthvrne die Faseleien des Pseudonymen Verfassers des -tour Luli se son 11s
und das seichte Snlvngerede der bekannten Pariserin in ihrer Looivtü as Lsrlin.
Whitmau trifft meist mit richtigem Gefühl den psychologischen Kernpunkt, so
wenn er in dem. Kapitel vom deutschen Zeitungswesen sagt: „Die Deutschen denken
mehr individuell als wir Engländer" und hinzusetzt, daß der deutsche Leser
uicht durch Dick und Dünn gerade der Zeitung folge, auf die er abonnirt, was
sicherlich in England die Regel ist, auch daß er der Urheberschaft der Leit¬
artikel nachforsche und auch die gegnerischen Blätter lese, um sich vor Ein¬
seitigkeit zu bewahren, eine Selbstentäußerung, die sich kaum bei einer andern
Nation finden dürfte. Er rühmt die heilsame Dezentralisation auch auf diesem
Felde und beneidet uns um Brennpunkte wie Leipzig, Köln, München und
Frankfurt neben der nicht allzu sehr dominirenden Reichshauptstadt. Wenn
er dagegen die schwierige Kunst, gute Leitartikel zu liefern, ausschließlich den
Engländern zuzusprechen sucht, so hat er sich doch wohl geirrt, wenn wir auch
dem Dg-it^ 1'slLgrg.pli, der v-ni/ I^so« und dem LtÄiularä ihren Ruhm nicht
nehmen wollen. Mit großer Wärme wird der sittliche Ernst und das Fern¬
halten des erziehlich bedenklichen in der deutschen Presse im Gegensatz zur
französischen betont. Auch folgende Aussprüche kennzeichnen die Gesinnung
des Beobachters: „Der Chauvinismus ist kein deutsches Gebrechen. — Wäre
Boulanger ein Deutscher, so würde er schon mich deu ersten vierundzwanzig
Stunden seiue Rolle ausgespielt haben. — Die Deutschen sprechen selbst von
überwundenen Feinden mit Achtung. — Angesichts der Erfolge der deutschen


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[0224] Alte und neue Stimmen aus England über Deutschland die größere Einfachheit der französischen Verhältnisse im Gegensatze zu den schwerer verständlichen, Verwickeltern Verhältnissen des politischen und Kultur¬ lebens in den zahlreichen Staaten des großen deutscheu Reiches und den viele» Brennpunkten, um die sich unser geistiges Schaffen gruppirt, erleichtert dem geschichtlich gebildeten Engländer die Beobachtung und Beurteilung französischer Dinge. Er fühlt sich dnrch den deutschen spekulativen Idealismus geradezu abgestoßen und empfindet, daß von der rationalistischen Nützlichkeitslehre, die im Staat und in der Schule jenseit des Kanals herrscht, keine Brücke hinüber¬ führt zu unsrer Beschaulichkeit und der von unsern Vätern überkommenen tiefern Weltanschauung. Dem gegenüber verdient nun die Thatsache rückhnltslvse Anerkennung, daß der Verfasser des Impsrig.1 Ohl-in-in^ von der Überlieferung abgewichen ist und nicht die dem Engländer so unsympathische deutsche Kleinstndterei und Unbeholfenheit in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt, sondern seinen Anfenthalt dazu benutzt hat, von der Natur und Weseuseigentümlichkeit, dem Ursprung und den Lebensbedingungen des deutschen Reiches und Volkes, von den Beweggründe» unsrer Negiernngspolitik und schließlich unsrer Gesamt¬ kultur ein möglichst treues Bild zu entwerfen. Die wirksamste Folie für seiue Betrachtungen bilden außer Mayhew und Hawthvrne die Faseleien des Pseudonymen Verfassers des -tour Luli se son 11s und das seichte Snlvngerede der bekannten Pariserin in ihrer Looivtü as Lsrlin. Whitmau trifft meist mit richtigem Gefühl den psychologischen Kernpunkt, so wenn er in dem. Kapitel vom deutschen Zeitungswesen sagt: „Die Deutschen denken mehr individuell als wir Engländer" und hinzusetzt, daß der deutsche Leser uicht durch Dick und Dünn gerade der Zeitung folge, auf die er abonnirt, was sicherlich in England die Regel ist, auch daß er der Urheberschaft der Leit¬ artikel nachforsche und auch die gegnerischen Blätter lese, um sich vor Ein¬ seitigkeit zu bewahren, eine Selbstentäußerung, die sich kaum bei einer andern Nation finden dürfte. Er rühmt die heilsame Dezentralisation auch auf diesem Felde und beneidet uns um Brennpunkte wie Leipzig, Köln, München und Frankfurt neben der nicht allzu sehr dominirenden Reichshauptstadt. Wenn er dagegen die schwierige Kunst, gute Leitartikel zu liefern, ausschließlich den Engländern zuzusprechen sucht, so hat er sich doch wohl geirrt, wenn wir auch dem Dg-it^ 1'slLgrg.pli, der v-ni/ I^so« und dem LtÄiularä ihren Ruhm nicht nehmen wollen. Mit großer Wärme wird der sittliche Ernst und das Fern¬ halten des erziehlich bedenklichen in der deutschen Presse im Gegensatz zur französischen betont. Auch folgende Aussprüche kennzeichnen die Gesinnung des Beobachters: „Der Chauvinismus ist kein deutsches Gebrechen. — Wäre Boulanger ein Deutscher, so würde er schon mich deu ersten vierundzwanzig Stunden seiue Rolle ausgespielt haben. — Die Deutschen sprechen selbst von überwundenen Feinden mit Achtung. — Angesichts der Erfolge der deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/224>, abgerufen am 18.06.2024.