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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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gewaltige Wachstum unsrer Städte, die gewissenhafte Verwaltung, die Pflege
der Künste, die Landstraßen, Brücken und Bahnhöfe, vor allem der unüber¬
troffene Frankfurter, das Sparkasfenwesen, worin wir nach des Verfassers
Geständnis den Engländern ein beschämendes Beispiel geben, unser Musterheer
-- mit einem schwermütigen Seitenblick auf das englische --, der ausgedehnte
Grundbesitz der ländlichen Bevölkerung gegenüber den Depossedirten Englands
und Irlands, das alles wird zum Schlüsse noch einmal vorbeigeführt.

Allerdings drängt sich beim Lesen des Buches die Mutmaßung auf, daß
die optimistische Darstellung mancher Verhältnisse aus der Tendenz der taei-
teischen HörmMig, und des Buches der Madame de Staöl entspringe, und
einen äußern Anhalt dafür geben die zahlreichen taciteischen Aussprüche als
Kapitelmotti. Denn daß Whitman über manche Wunde schweigt oder mit dem
ciceronianischen Diplomatenkunstgriff der xi-astsritio scheinbar weggeht, liegt auf
der Hand. Aber alles zusammengenommen, trägt jedes Kapitel das untrüg¬
liche Gepräge aufrichtigen Wohlwollens und unverhohlener Anerkennung.
Umso mehr hat uus eines gewundert, nämlich seine auffallende Verschlossen¬
heit über unsre Rechtspflege: sie wird kaum gestreift. Ist das ein absicht¬
liches Stillschweigen?

Die Annahme, daß er sich um diesen hochwichtigen Teil des Sitten- und
Geisteslebens im deutschen Rechtsstaate nicht gekümmert habe, oder daß ihm das
Verständnis und jeder Maßstab dafür fehlen sollte, ist doch wohl ausgeschlossen.
Es bleibt nur die Möglichkeit, daß er unsrer wissenschaftlichen Jurisprudenz
und unsrer Rechtspflege seine Anerkennung als etwas Selbstverständliches still¬
schweigend zollt, er als Vertreter eines Volkes, das bei all seiner konstitutio¬
nellen Freiheit sich selbst eine so fürchterliche Kette geschmiedet hat in dem
schwerfälligen und wahnsinnig kostspieligen Mechanismus seines Nechtswesens,
wo die Zivilgerichtsbarkeit fast nur für den Reichen vorhanden ist, und wo das
"zuiWö als Inschrift auf dem Giebelfelde des Themistempels wie eine
Lüge auf der Stirn schimmern würde.

In der Tnuchnitzschen Ausgabe*) hat der Verfasser irrige Angaben der
ersten Auflage nach Möglichkeit verbessert. Es bedarf aber doch noch manches
der Berichtigung; fo läßt z. B. Whitman den Württemberger Kepler aus
Ostpreußen stammen. Außerdem hat er die neuesten Ereignisse berücksichtigt
und besonders die Charakteristik der Armee um einige Züge bereichert, die er
seitdem bei seinen Studien an Ort und Stelle gesammelt hat. Einen davon,
den die erste Ausgabe, wenn wir nicht irren, noch nicht enthielt, wollen wir
doch nacherzählen. Ein großer Berliner Bankier, der geadelt worden war,
und dessen Sohn beim Militär diente, lud die Offiziere des betreffenden Re-



*) Imxsrisl Kornau/, ^ oritivs,! Skua^ ol the-t a,Qä vlmraotsr dz? Lineus^
^VKitm-n", LoxMAkt säition, rovisoä ima extsucksä. Leipzig, Bernhard Tcmchnitz, 1890.

gewaltige Wachstum unsrer Städte, die gewissenhafte Verwaltung, die Pflege
der Künste, die Landstraßen, Brücken und Bahnhöfe, vor allem der unüber¬
troffene Frankfurter, das Sparkasfenwesen, worin wir nach des Verfassers
Geständnis den Engländern ein beschämendes Beispiel geben, unser Musterheer
— mit einem schwermütigen Seitenblick auf das englische —, der ausgedehnte
Grundbesitz der ländlichen Bevölkerung gegenüber den Depossedirten Englands
und Irlands, das alles wird zum Schlüsse noch einmal vorbeigeführt.

Allerdings drängt sich beim Lesen des Buches die Mutmaßung auf, daß
die optimistische Darstellung mancher Verhältnisse aus der Tendenz der taei-
teischen HörmMig, und des Buches der Madame de Staöl entspringe, und
einen äußern Anhalt dafür geben die zahlreichen taciteischen Aussprüche als
Kapitelmotti. Denn daß Whitman über manche Wunde schweigt oder mit dem
ciceronianischen Diplomatenkunstgriff der xi-astsritio scheinbar weggeht, liegt auf
der Hand. Aber alles zusammengenommen, trägt jedes Kapitel das untrüg¬
liche Gepräge aufrichtigen Wohlwollens und unverhohlener Anerkennung.
Umso mehr hat uus eines gewundert, nämlich seine auffallende Verschlossen¬
heit über unsre Rechtspflege: sie wird kaum gestreift. Ist das ein absicht¬
liches Stillschweigen?

Die Annahme, daß er sich um diesen hochwichtigen Teil des Sitten- und
Geisteslebens im deutschen Rechtsstaate nicht gekümmert habe, oder daß ihm das
Verständnis und jeder Maßstab dafür fehlen sollte, ist doch wohl ausgeschlossen.
Es bleibt nur die Möglichkeit, daß er unsrer wissenschaftlichen Jurisprudenz
und unsrer Rechtspflege seine Anerkennung als etwas Selbstverständliches still¬
schweigend zollt, er als Vertreter eines Volkes, das bei all seiner konstitutio¬
nellen Freiheit sich selbst eine so fürchterliche Kette geschmiedet hat in dem
schwerfälligen und wahnsinnig kostspieligen Mechanismus seines Nechtswesens,
wo die Zivilgerichtsbarkeit fast nur für den Reichen vorhanden ist, und wo das
«zuiWö als Inschrift auf dem Giebelfelde des Themistempels wie eine
Lüge auf der Stirn schimmern würde.

In der Tnuchnitzschen Ausgabe*) hat der Verfasser irrige Angaben der
ersten Auflage nach Möglichkeit verbessert. Es bedarf aber doch noch manches
der Berichtigung; fo läßt z. B. Whitman den Württemberger Kepler aus
Ostpreußen stammen. Außerdem hat er die neuesten Ereignisse berücksichtigt
und besonders die Charakteristik der Armee um einige Züge bereichert, die er
seitdem bei seinen Studien an Ort und Stelle gesammelt hat. Einen davon,
den die erste Ausgabe, wenn wir nicht irren, noch nicht enthielt, wollen wir
doch nacherzählen. Ein großer Berliner Bankier, der geadelt worden war,
und dessen Sohn beim Militär diente, lud die Offiziere des betreffenden Re-



*) Imxsrisl Kornau/, ^ oritivs,! Skua^ ol the-t a,Qä vlmraotsr dz? Lineus^
^VKitm-n», LoxMAkt säition, rovisoä ima extsucksä. Leipzig, Bernhard Tcmchnitz, 1890.
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[0226] gewaltige Wachstum unsrer Städte, die gewissenhafte Verwaltung, die Pflege der Künste, die Landstraßen, Brücken und Bahnhöfe, vor allem der unüber¬ troffene Frankfurter, das Sparkasfenwesen, worin wir nach des Verfassers Geständnis den Engländern ein beschämendes Beispiel geben, unser Musterheer — mit einem schwermütigen Seitenblick auf das englische —, der ausgedehnte Grundbesitz der ländlichen Bevölkerung gegenüber den Depossedirten Englands und Irlands, das alles wird zum Schlüsse noch einmal vorbeigeführt. Allerdings drängt sich beim Lesen des Buches die Mutmaßung auf, daß die optimistische Darstellung mancher Verhältnisse aus der Tendenz der taei- teischen HörmMig, und des Buches der Madame de Staöl entspringe, und einen äußern Anhalt dafür geben die zahlreichen taciteischen Aussprüche als Kapitelmotti. Denn daß Whitman über manche Wunde schweigt oder mit dem ciceronianischen Diplomatenkunstgriff der xi-astsritio scheinbar weggeht, liegt auf der Hand. Aber alles zusammengenommen, trägt jedes Kapitel das untrüg¬ liche Gepräge aufrichtigen Wohlwollens und unverhohlener Anerkennung. Umso mehr hat uus eines gewundert, nämlich seine auffallende Verschlossen¬ heit über unsre Rechtspflege: sie wird kaum gestreift. Ist das ein absicht¬ liches Stillschweigen? Die Annahme, daß er sich um diesen hochwichtigen Teil des Sitten- und Geisteslebens im deutschen Rechtsstaate nicht gekümmert habe, oder daß ihm das Verständnis und jeder Maßstab dafür fehlen sollte, ist doch wohl ausgeschlossen. Es bleibt nur die Möglichkeit, daß er unsrer wissenschaftlichen Jurisprudenz und unsrer Rechtspflege seine Anerkennung als etwas Selbstverständliches still¬ schweigend zollt, er als Vertreter eines Volkes, das bei all seiner konstitutio¬ nellen Freiheit sich selbst eine so fürchterliche Kette geschmiedet hat in dem schwerfälligen und wahnsinnig kostspieligen Mechanismus seines Nechtswesens, wo die Zivilgerichtsbarkeit fast nur für den Reichen vorhanden ist, und wo das «zuiWö als Inschrift auf dem Giebelfelde des Themistempels wie eine Lüge auf der Stirn schimmern würde. In der Tnuchnitzschen Ausgabe*) hat der Verfasser irrige Angaben der ersten Auflage nach Möglichkeit verbessert. Es bedarf aber doch noch manches der Berichtigung; fo läßt z. B. Whitman den Württemberger Kepler aus Ostpreußen stammen. Außerdem hat er die neuesten Ereignisse berücksichtigt und besonders die Charakteristik der Armee um einige Züge bereichert, die er seitdem bei seinen Studien an Ort und Stelle gesammelt hat. Einen davon, den die erste Ausgabe, wenn wir nicht irren, noch nicht enthielt, wollen wir doch nacherzählen. Ein großer Berliner Bankier, der geadelt worden war, und dessen Sohn beim Militär diente, lud die Offiziere des betreffenden Re- *) Imxsrisl Kornau/, ^ oritivs,! Skua^ ol the-t a,Qä vlmraotsr dz? Lineus^ ^VKitm-n», LoxMAkt säition, rovisoä ima extsucksä. Leipzig, Bernhard Tcmchnitz, 1890.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/226>, abgerufen am 29.06.2024.