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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Jungfrau Maria verehren und des Segens der Erlösung teilhaftig geworden
sind, ohne deswegen auf die ihrem Stamme eigne poetische Anschaulichkeit in
der Darstellung des Göttlichen zu verzichten. Sie befinden sich in diesen:
Zustande nicht weniger wohl als ihre berühmten Vorfahren, die Sieger von
Salamis und die großen Philosophen, deren Thaten und Lehren sie in unserm
Jahrhundert auf dem Umwege über Deutschland wieder kennen gelernt haben;
wahrlich eine schöne Tour des großen Lampadodromos der ewigen Pmmthe-
näen, in dem immer ein Volk dem andern die Fackel reicht!

Ähnlich wie die altgriechische, ist die Zerrissenheit des mittelalterlichen
Italiens zu beurteilen. Heinrich Leo billigt sie und die Parteikämpfe der
Kleinstaaten nicht allein um des höhern Zweckes willen, der dadurch erreicht
wurde, sondern als das Natürliche und Gute an sich. Er sagt über die
mancherlei Versuche, die angestellt wurden, in Genua Frieden zu stiften
(Band III seiner Geschichte der italienischen Staaten, S. 477): "Im Grunde
sind die Vorstellungen der Menschen vom Frieden wunderlich. War denn nicht
der Kriegszustand, in welchem sich die Genueser befanden, eben ein solcher, wo
die individuelle Kraft jedes Einzelnen fast ungemessen sich ausdehnen konnte?
Jahrelang war das ganze Gebiet in zwei feindliche Hälften zersplittert; so
genoß jede Gewaltthat eines gewissen Schutzes. Dabei war keiner der Nach¬
barn weiter beteiligt, als er beteiligt sein wollte; die Genueser wüteteu gegen
sich, uicht gegen Fremde. Dennoch ist die menschliche Natur beschränkt genug,
nicht einzusehen, daß dies gerade der Genua angemessene Zustand, der, bei
welchem es geistigen Frieden hatte, war; daß jeder mechanisch wohl geordnete
politische Zustand gerade das dem genuesischen Wesen unangemessenste gewesen
wäre, und so feindete man Genua fortwährend mit Friedensversuchen an, die
der Natur der Sache nach neue Spaltungen begründen mußten, während man
mit der Einsicht, daß gewisse durch die christliche Bildung entwickelte Sätze,
mögen sie auch in der Theorie richtig sein, doch nicht überall anwendbar sind,
sich alle unnötigen Versuche und Genua krankhafte Zwischcnzustände erspart
hätte. Krieg und Frieden stehen einander wie Wärme und Kälte entgegen;
und wie für gewisse Tiere ein warmes Klima Lebenselement ist, so für andre
ein eisiges. Wie man die meisten Tiere vernichtet oder wenigstens ihre ur¬
sprüngliche Natur bricht und verdirbt, wenn man ihnen eine unangemessene
Temperatur unweise, so hat man auch in der Welt bei weitem mehr geistiges
Unglück angerichtet dnrch den Frieden als durch den Krieg, weil mau mit
jenem immer die bornirte Anforderung einer politisch-mechanischen Ordnung
verband und oft die Individualitäten der Einzelnen und der kleinen Kreise
knickte, um ein farbloses, unerquickliches Allgemeines herzustellen. Das schönste
Land Europas ist durch dies Aufheben kleiner politischer Kreise aller Frische
beraubt worden. Wie Genna im.Kriege den ihm eigentümlichen Frieden hatte,
sieht man deutlich durch das Wachsen seiner Handlung bei beiden Parteien,


Jungfrau Maria verehren und des Segens der Erlösung teilhaftig geworden
sind, ohne deswegen auf die ihrem Stamme eigne poetische Anschaulichkeit in
der Darstellung des Göttlichen zu verzichten. Sie befinden sich in diesen:
Zustande nicht weniger wohl als ihre berühmten Vorfahren, die Sieger von
Salamis und die großen Philosophen, deren Thaten und Lehren sie in unserm
Jahrhundert auf dem Umwege über Deutschland wieder kennen gelernt haben;
wahrlich eine schöne Tour des großen Lampadodromos der ewigen Pmmthe-
näen, in dem immer ein Volk dem andern die Fackel reicht!

Ähnlich wie die altgriechische, ist die Zerrissenheit des mittelalterlichen
Italiens zu beurteilen. Heinrich Leo billigt sie und die Parteikämpfe der
Kleinstaaten nicht allein um des höhern Zweckes willen, der dadurch erreicht
wurde, sondern als das Natürliche und Gute an sich. Er sagt über die
mancherlei Versuche, die angestellt wurden, in Genua Frieden zu stiften
(Band III seiner Geschichte der italienischen Staaten, S. 477): „Im Grunde
sind die Vorstellungen der Menschen vom Frieden wunderlich. War denn nicht
der Kriegszustand, in welchem sich die Genueser befanden, eben ein solcher, wo
die individuelle Kraft jedes Einzelnen fast ungemessen sich ausdehnen konnte?
Jahrelang war das ganze Gebiet in zwei feindliche Hälften zersplittert; so
genoß jede Gewaltthat eines gewissen Schutzes. Dabei war keiner der Nach¬
barn weiter beteiligt, als er beteiligt sein wollte; die Genueser wüteteu gegen
sich, uicht gegen Fremde. Dennoch ist die menschliche Natur beschränkt genug,
nicht einzusehen, daß dies gerade der Genua angemessene Zustand, der, bei
welchem es geistigen Frieden hatte, war; daß jeder mechanisch wohl geordnete
politische Zustand gerade das dem genuesischen Wesen unangemessenste gewesen
wäre, und so feindete man Genua fortwährend mit Friedensversuchen an, die
der Natur der Sache nach neue Spaltungen begründen mußten, während man
mit der Einsicht, daß gewisse durch die christliche Bildung entwickelte Sätze,
mögen sie auch in der Theorie richtig sein, doch nicht überall anwendbar sind,
sich alle unnötigen Versuche und Genua krankhafte Zwischcnzustände erspart
hätte. Krieg und Frieden stehen einander wie Wärme und Kälte entgegen;
und wie für gewisse Tiere ein warmes Klima Lebenselement ist, so für andre
ein eisiges. Wie man die meisten Tiere vernichtet oder wenigstens ihre ur¬
sprüngliche Natur bricht und verdirbt, wenn man ihnen eine unangemessene
Temperatur unweise, so hat man auch in der Welt bei weitem mehr geistiges
Unglück angerichtet dnrch den Frieden als durch den Krieg, weil mau mit
jenem immer die bornirte Anforderung einer politisch-mechanischen Ordnung
verband und oft die Individualitäten der Einzelnen und der kleinen Kreise
knickte, um ein farbloses, unerquickliches Allgemeines herzustellen. Das schönste
Land Europas ist durch dies Aufheben kleiner politischer Kreise aller Frische
beraubt worden. Wie Genna im.Kriege den ihm eigentümlichen Frieden hatte,
sieht man deutlich durch das Wachsen seiner Handlung bei beiden Parteien,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/606>, abgerufen am 24.07.2024.