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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Hamerling der Philosoph

die Obrigkeit nicht thue, mich der Verheißung der Schrift: "Mein ist die
Reiche, ich will vergelten, spricht der Herr!"

Mit Recht spricht Hamerling dem Pessimismus die Fähigkeit, eine Moral
zu begründen, rundweg ab; wenn die Pessimisten, meint er, den Mut Hütten,
die Konsequenzen ihrer Lehre zu ziehen, würden sie ihre Mitmenschen einfach
totschlagen, um sie von der Qual des Daseins zu befreien. Aber auch diese
Beweisführung kehrt sich gegen ihn selbst, denn er für seine Person hatte
zwar Freude am Lebe" und würde sich jeden solchen Erlösungsversuch ernstlich
verbeten haben; aber so weit haben doch wieder die Pessimisten Recht, daß,
wenn auch nicht die "leisten, wie sie behaupten, doch wenigstens sehr viele
Menschen ohne alle Freude nur sich und andern zur Last leben; wozu die
leben lassen? Wir wollen gar nicht vom Massenelend sprechen; aber denken
wir an Fälle, die selbst in reichen Häusern vorkommen. Ein zweijähriges
Kind verfällt in eine höchst schmerzhafte unheilbare Krankheit. Es ist geistig
entwickelt genug, das volle Maß seiner Qualen zu empfinde", aber so weit
reicht seine Ausbildung uoch nicht, daß es in irgend einem idealen Gut,
wie Kunst oder Wissenschaft, Entschädigung für sei" leibliches Elend finden
oder auch nur durch Hoffnung getröstet werden könnte. Uns ist ein Fall
bekannt, wo el" Vater, der seine Kinder zärtlich liebte, den Arzt bat, den
Qualen seines Söhnchens mit el"em Pülverche" el" schmerzloses Ende zu
bereiten. Der Arzt, ein frommer Man", erwiderte: "Da sei Gott vor!"
Würde sich ein ungläubiger Arzt nicht sogar verpflichtet gefühlt habe", dem
Wunsche des Vaters nachzugeben? Für den Le"g"er des Jenseits ist i"
solchem Falle die Tötung eine Forderung der Liebe wie der Gerechtigkeit.
Ich wüßte in der ganze" Welt "indes, was von einer solchen Befreiungs¬
that zurückhalte!" könnte, als den Glaube" a" eine" Gott, der allein
Herr über Leben und Tod ist und Eiligriffe i" sei" Recht nicht duldet,
und an ein Jenseits, in dein der unschuldig leidende entschädigt werden
wird. Ohne diesen Glaube" wäre es ii" höchsten Grade unvernünftig,
.Krüppel und Mißgeburten am Leben zu erhalten; sie müßten von Staats¬
wegen selbst gegen den Willen der Eltern umgebracht werden. Endlich, wie
will ein Nichtchrist die Ansicht aller mannhaften Heidenvölker widerlegen, der
Freie dürfe in unwürdiger Lage nicht verharren, sonder" müsse sich, wenn es
anders uicht geht, durch Selbstmord daraus befreien? Und nach u"srer Ver¬
fassung ist jeder Leinweber, jeder Schustergescll, jeder Hausknecht, jeder Tage¬
löhner ein freier Mann!

Obwohl ein entschiedner Gegner des Pessimismus, sieht doch Hamerling
mit Schopenhauer in der Wesenseiuheit aller Geschöpfe "das Grundprinzip
des moralischen Triebes" und macht sich das berühmte buddhistische ?ut, t^vgM
usi (das bist du) zu eigen, d. h. also, unsre Liebe z"in Rede"me"schen (aber
mich zu jedem Tier und jeder Blume!) soll daraus entspringen, daß wir uns


Hamerling der Philosoph

die Obrigkeit nicht thue, mich der Verheißung der Schrift: „Mein ist die
Reiche, ich will vergelten, spricht der Herr!"

Mit Recht spricht Hamerling dem Pessimismus die Fähigkeit, eine Moral
zu begründen, rundweg ab; wenn die Pessimisten, meint er, den Mut Hütten,
die Konsequenzen ihrer Lehre zu ziehen, würden sie ihre Mitmenschen einfach
totschlagen, um sie von der Qual des Daseins zu befreien. Aber auch diese
Beweisführung kehrt sich gegen ihn selbst, denn er für seine Person hatte
zwar Freude am Lebe» und würde sich jeden solchen Erlösungsversuch ernstlich
verbeten haben; aber so weit haben doch wieder die Pessimisten Recht, daß,
wenn auch nicht die »leisten, wie sie behaupten, doch wenigstens sehr viele
Menschen ohne alle Freude nur sich und andern zur Last leben; wozu die
leben lassen? Wir wollen gar nicht vom Massenelend sprechen; aber denken
wir an Fälle, die selbst in reichen Häusern vorkommen. Ein zweijähriges
Kind verfällt in eine höchst schmerzhafte unheilbare Krankheit. Es ist geistig
entwickelt genug, das volle Maß seiner Qualen zu empfinde», aber so weit
reicht seine Ausbildung uoch nicht, daß es in irgend einem idealen Gut,
wie Kunst oder Wissenschaft, Entschädigung für sei» leibliches Elend finden
oder auch nur durch Hoffnung getröstet werden könnte. Uns ist ein Fall
bekannt, wo el» Vater, der seine Kinder zärtlich liebte, den Arzt bat, den
Qualen seines Söhnchens mit el»em Pülverche» el» schmerzloses Ende zu
bereiten. Der Arzt, ein frommer Man», erwiderte: „Da sei Gott vor!"
Würde sich ein ungläubiger Arzt nicht sogar verpflichtet gefühlt habe», dem
Wunsche des Vaters nachzugeben? Für den Le»g»er des Jenseits ist i»
solchem Falle die Tötung eine Forderung der Liebe wie der Gerechtigkeit.
Ich wüßte in der ganze» Welt »indes, was von einer solchen Befreiungs¬
that zurückhalte!» könnte, als den Glaube» a» eine» Gott, der allein
Herr über Leben und Tod ist und Eiligriffe i» sei» Recht nicht duldet,
und an ein Jenseits, in dein der unschuldig leidende entschädigt werden
wird. Ohne diesen Glaube» wäre es ii» höchsten Grade unvernünftig,
.Krüppel und Mißgeburten am Leben zu erhalten; sie müßten von Staats¬
wegen selbst gegen den Willen der Eltern umgebracht werden. Endlich, wie
will ein Nichtchrist die Ansicht aller mannhaften Heidenvölker widerlegen, der
Freie dürfe in unwürdiger Lage nicht verharren, sonder» müsse sich, wenn es
anders uicht geht, durch Selbstmord daraus befreien? Und nach u»srer Ver¬
fassung ist jeder Leinweber, jeder Schustergescll, jeder Hausknecht, jeder Tage¬
löhner ein freier Mann!

Obwohl ein entschiedner Gegner des Pessimismus, sieht doch Hamerling
mit Schopenhauer in der Wesenseiuheit aller Geschöpfe „das Grundprinzip
des moralischen Triebes" und macht sich das berühmte buddhistische ?ut, t^vgM
usi (das bist du) zu eigen, d. h. also, unsre Liebe z»in Rede»me»schen (aber
mich zu jedem Tier und jeder Blume!) soll daraus entspringen, daß wir uns


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[0486] Hamerling der Philosoph die Obrigkeit nicht thue, mich der Verheißung der Schrift: „Mein ist die Reiche, ich will vergelten, spricht der Herr!" Mit Recht spricht Hamerling dem Pessimismus die Fähigkeit, eine Moral zu begründen, rundweg ab; wenn die Pessimisten, meint er, den Mut Hütten, die Konsequenzen ihrer Lehre zu ziehen, würden sie ihre Mitmenschen einfach totschlagen, um sie von der Qual des Daseins zu befreien. Aber auch diese Beweisführung kehrt sich gegen ihn selbst, denn er für seine Person hatte zwar Freude am Lebe» und würde sich jeden solchen Erlösungsversuch ernstlich verbeten haben; aber so weit haben doch wieder die Pessimisten Recht, daß, wenn auch nicht die »leisten, wie sie behaupten, doch wenigstens sehr viele Menschen ohne alle Freude nur sich und andern zur Last leben; wozu die leben lassen? Wir wollen gar nicht vom Massenelend sprechen; aber denken wir an Fälle, die selbst in reichen Häusern vorkommen. Ein zweijähriges Kind verfällt in eine höchst schmerzhafte unheilbare Krankheit. Es ist geistig entwickelt genug, das volle Maß seiner Qualen zu empfinde», aber so weit reicht seine Ausbildung uoch nicht, daß es in irgend einem idealen Gut, wie Kunst oder Wissenschaft, Entschädigung für sei» leibliches Elend finden oder auch nur durch Hoffnung getröstet werden könnte. Uns ist ein Fall bekannt, wo el» Vater, der seine Kinder zärtlich liebte, den Arzt bat, den Qualen seines Söhnchens mit el»em Pülverche» el» schmerzloses Ende zu bereiten. Der Arzt, ein frommer Man», erwiderte: „Da sei Gott vor!" Würde sich ein ungläubiger Arzt nicht sogar verpflichtet gefühlt habe», dem Wunsche des Vaters nachzugeben? Für den Le»g»er des Jenseits ist i» solchem Falle die Tötung eine Forderung der Liebe wie der Gerechtigkeit. Ich wüßte in der ganze» Welt »indes, was von einer solchen Befreiungs¬ that zurückhalte!» könnte, als den Glaube» a» eine» Gott, der allein Herr über Leben und Tod ist und Eiligriffe i» sei» Recht nicht duldet, und an ein Jenseits, in dein der unschuldig leidende entschädigt werden wird. Ohne diesen Glaube» wäre es ii» höchsten Grade unvernünftig, .Krüppel und Mißgeburten am Leben zu erhalten; sie müßten von Staats¬ wegen selbst gegen den Willen der Eltern umgebracht werden. Endlich, wie will ein Nichtchrist die Ansicht aller mannhaften Heidenvölker widerlegen, der Freie dürfe in unwürdiger Lage nicht verharren, sonder» müsse sich, wenn es anders uicht geht, durch Selbstmord daraus befreien? Und nach u»srer Ver¬ fassung ist jeder Leinweber, jeder Schustergescll, jeder Hausknecht, jeder Tage¬ löhner ein freier Mann! Obwohl ein entschiedner Gegner des Pessimismus, sieht doch Hamerling mit Schopenhauer in der Wesenseiuheit aller Geschöpfe „das Grundprinzip des moralischen Triebes" und macht sich das berühmte buddhistische ?ut, t^vgM usi (das bist du) zu eigen, d. h. also, unsre Liebe z»in Rede»me»schen (aber mich zu jedem Tier und jeder Blume!) soll daraus entspringen, daß wir uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/486>, abgerufen am 24.07.2024.