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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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abgewöhnen, und ein freier Mann kaun sich darüber hinwegsetzen. Aber Herr
Karl Vogt oder Herr L. Büchner wird nichts einstecken, und wenn sie es doch
thäten, so würden sich ihre Freunde, die Herren Materialisten, des Individuums,
Karl Vogt oder L. Büchner geheißen, nicht bloß vor andern, sondern mich
nnter sich schämen!" Darüber bin ich andrer Meinung. Was im heutigen
Europa jeden anständigen Menschen abhält, silberne Löffel einzustecken, das
ist der Umstand, daß bei uns der Diebstahl als ein entehrendes Verbrechen
gilt, und daß sich jeder, der einen solchen begeht, damit für immer ans der
anständigen Gesellschaft ausschließt. Dieser Umstand wirkt auch in solchen
Fällen noch stark genug, vom Diebstahl abzuhalten, wo jede Gefahr der
Entdeckung ausgeschlossen zu sein scheint, denn die Möglichkeit der Entdeckung
bleibt ja stets bestehen. Viele in unsrer Zeit übliche Arte" der Bereicherung
verletzen die Idee der Gerechtigkeit in weit höherem Grade als der einfache
Diebstahl, weil sie den Nebenmenschen oder vielleicht Hunderte von Neben-
mcnsche" weit mehr schädigen, aber da sie dem Sünder keinen gesellschaftlichen
Makel anheften, so sind sie trotzdem im Schwange, auch bei angesehenen
Personen, die sich selbst ganz aufrichtig für Muster der Rechtschaffenheit
halten. Der Teil der Moral der modernen Kulturvölker, der sich auf die
Eigentumsverhältnisse bezieht, beruht thatsächlich größtenteils auf äußerlicher
Dressur und angewohnter Vorurteilen. Aber nur gehen noch weiter und
behaupten, daß ohne die Rücksicht auf das Urteil oder Vorurteil der Gesellschaft
die Herren Büchner und Vogt und noch manche andre sich unter Umstände"
eines Diebstahls, ja sogar eines Raubmordes nicht einmal nnter sich schämen
würden. Bulwer hat das Problem in seinem Eugen Nram behandelt. El"
junger Gelehrter von edelm Charakter und zartester Empfindung verschafft
sich durch einen Raubmord die Mittel, den Wissenschaften und seinen Mit¬
menschen große Dienste zu leisten. Der Mensch, den er erschlagen hat, war
ein des Daseins unwürdiger roher Kerl, der sein Geld aus unrechtmäßige
Weise erworben hatte und es ungenützt liegen ließ oder zum Schaden seiner
Mitmensche" a"we"bete. Was -- außer der Furcht vor Entdeckung -- sollte
den Helde" des Romans von solcher That zurückhalten? Die Idee der Ge¬
rechtigkeit? Aber die forderte ja gerade, daß das Geld einem Unwürdigen
genommen und einem Würdigen gegeben würde. Die Liebe? Aber die wurde
ja gerade geübt, wen" el" Mciisch hinweggeräumt wurde, der dem Glücke
vieler andern im Wege stand! Wo keine geordnete Rechtspflege besteht, da
hat sich noch immer jeder tapfere Mann für berufen erachtet, die verletzte
Gerechtigkeit auf gewaltsamen. Wege herzustellen, durch Handlungen, die von
Diebstahl, Raub und Mord nur dem Namen, aber nicht dem Wesen nach
verschieden sind. Was den schlichten Christen von Gewaltthat zurückhält, das
sind einzig die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, und das
Vertrauen, daß Gott einem jeden zu seinem Rechte verhelfen werde, wenn es


GrenzbvK-n II 1L91 01

abgewöhnen, und ein freier Mann kaun sich darüber hinwegsetzen. Aber Herr
Karl Vogt oder Herr L. Büchner wird nichts einstecken, und wenn sie es doch
thäten, so würden sich ihre Freunde, die Herren Materialisten, des Individuums,
Karl Vogt oder L. Büchner geheißen, nicht bloß vor andern, sondern mich
nnter sich schämen!" Darüber bin ich andrer Meinung. Was im heutigen
Europa jeden anständigen Menschen abhält, silberne Löffel einzustecken, das
ist der Umstand, daß bei uns der Diebstahl als ein entehrendes Verbrechen
gilt, und daß sich jeder, der einen solchen begeht, damit für immer ans der
anständigen Gesellschaft ausschließt. Dieser Umstand wirkt auch in solchen
Fällen noch stark genug, vom Diebstahl abzuhalten, wo jede Gefahr der
Entdeckung ausgeschlossen zu sein scheint, denn die Möglichkeit der Entdeckung
bleibt ja stets bestehen. Viele in unsrer Zeit übliche Arte» der Bereicherung
verletzen die Idee der Gerechtigkeit in weit höherem Grade als der einfache
Diebstahl, weil sie den Nebenmenschen oder vielleicht Hunderte von Neben-
mcnsche» weit mehr schädigen, aber da sie dem Sünder keinen gesellschaftlichen
Makel anheften, so sind sie trotzdem im Schwange, auch bei angesehenen
Personen, die sich selbst ganz aufrichtig für Muster der Rechtschaffenheit
halten. Der Teil der Moral der modernen Kulturvölker, der sich auf die
Eigentumsverhältnisse bezieht, beruht thatsächlich größtenteils auf äußerlicher
Dressur und angewohnter Vorurteilen. Aber nur gehen noch weiter und
behaupten, daß ohne die Rücksicht auf das Urteil oder Vorurteil der Gesellschaft
die Herren Büchner und Vogt und noch manche andre sich unter Umstände»
eines Diebstahls, ja sogar eines Raubmordes nicht einmal nnter sich schämen
würden. Bulwer hat das Problem in seinem Eugen Nram behandelt. El»
junger Gelehrter von edelm Charakter und zartester Empfindung verschafft
sich durch einen Raubmord die Mittel, den Wissenschaften und seinen Mit¬
menschen große Dienste zu leisten. Der Mensch, den er erschlagen hat, war
ein des Daseins unwürdiger roher Kerl, der sein Geld aus unrechtmäßige
Weise erworben hatte und es ungenützt liegen ließ oder zum Schaden seiner
Mitmensche» a»we»bete. Was — außer der Furcht vor Entdeckung — sollte
den Helde» des Romans von solcher That zurückhalten? Die Idee der Ge¬
rechtigkeit? Aber die forderte ja gerade, daß das Geld einem Unwürdigen
genommen und einem Würdigen gegeben würde. Die Liebe? Aber die wurde
ja gerade geübt, wen» el» Mciisch hinweggeräumt wurde, der dem Glücke
vieler andern im Wege stand! Wo keine geordnete Rechtspflege besteht, da
hat sich noch immer jeder tapfere Mann für berufen erachtet, die verletzte
Gerechtigkeit auf gewaltsamen. Wege herzustellen, durch Handlungen, die von
Diebstahl, Raub und Mord nur dem Namen, aber nicht dem Wesen nach
verschieden sind. Was den schlichten Christen von Gewaltthat zurückhält, das
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/485>, abgerufen am 24.07.2024.