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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Schopenhauer leclivlva"

Gegenteil jener Lebensweisheit, die des Verfassers Pessimismus fordert) und
die vermischten Abhandlungen, die Brasch am Schlüsse des zweiten Bandes
zusammenstellt. Sie sind dem zweiten Baude der Parerga und Paralipomena
entnommen und zu bekannt, als das; es erlaubt wäre, darauf einzugehen; ihre
göttliche Grobheit ist ebenso erfrischend als nachahmenswert. Grcnzbvtenleser
müssen namentlich den Aufsatz über Schriftsteller und Stil interessant finde",
weil er sehr kräftig gegen die Berhnuzuug unsrer schönem deutschen Sprache
donnert und zum Teil dieselben Versündigungen durchhechelt, die in diesen
Blättern so oft gerügt werden. In einem Punkte jedoch weicht Schopenhauer
von den Grundsätzen aller heutigen Sprachreiniger wesentlich ab: er nimmt
die Fremdwörter in Schutz, weil er sie für eine Bereicherung unsrer Sprache
ansieht, und weil er die meisten von ihnen, namentlich die tvrminl tuowüoi,
für unentbehrlich hält.

Das wäre nun alles ganz schön, wenn nicht zu befürchten wäre, daß die
beiden Giftpilze dieses philosophischen Krautgartens, der Atheismus und der
Pessimismus, mehr Seelen umbringen werden, als von dem nahrhaften Gemüse
darin am Leben erhalten werde". Die Herbart-Lvtzische Richtung, die einzige
außerhalb der kirchengläubigen Kreise, die de" Glaube" an Gott uicht aus¬
schließt, hat nur eine uicht sehr einflußreiche Minderheit der denkenden Geister
sür sich, die Junghegelianer wie die Natnrwissenschafter gelangen auf andern
Wegen zu denselben Zielen wie Schopenhauer, und so wird die Masse der
Gebildeten und noch mehr die der Halbgebildeten die Auffrischung der Schopeu-
hauerschen Beweisführung als eine neue Bestätigung ihrer Lieblingsmeinuugeu
und Herzenswünsche willkommen heißen.

Schopenhauer versucht nämlich den Atheismus auf streug wissenschaft¬
lichem Wege zu beweise", und zwar in dem philosophisch wertvollsten seiner
Werke: in der Untersuchung "über die vierfache Wurzel des Satzes vom zu¬
reichenden Grunde." Er zeigt darin, daß dieser Satz "ein gemeinschaftlicher
Ausdruck mehrerer a xrivri gegebner Erkenntnisse ist." Diese Erkenntnisse be¬
ziehen sich auf vier verschiedne Arte" von Gegenständen: die Aufeinanderfolge
der Erscheinungen, den logischem Zusammenhang unsrer Begriffe, die Wechsel¬
beziehungen der mathematische" Größen unter einander und den Ursprung
unsrer Handlungen. Demnach spaltet sich der Satz vom zureichenden Grunde
in vier Sätze: den Satz vom zureichenden Grnnde des Werdens (z. B. daß
die Verbreuuuugserscheinungen durch Hinzutritt von Sauerstoff zu einem brenn¬
baren Körper verursacht werden); den Satz vom zureichenden Grunde des
Erkennens (der bei jeder Schlußfolgerung angewendet wird); den Satz vom
Grunde des Seins (z. B.: ein Dreieck mit drei gleichen Winkeln ist nur
möglich, wenn die drei Seiten gleich sind; zur Zahl zehn kann ich nnr durch
neun vorhergehende Einheiten gelangen); und das Gesetz der Motivation (keine
Handlung ist denkbar ohne vorhergehenden Beweggrund). Mit diesen vier


Schopenhauer leclivlva»

Gegenteil jener Lebensweisheit, die des Verfassers Pessimismus fordert) und
die vermischten Abhandlungen, die Brasch am Schlüsse des zweiten Bandes
zusammenstellt. Sie sind dem zweiten Baude der Parerga und Paralipomena
entnommen und zu bekannt, als das; es erlaubt wäre, darauf einzugehen; ihre
göttliche Grobheit ist ebenso erfrischend als nachahmenswert. Grcnzbvtenleser
müssen namentlich den Aufsatz über Schriftsteller und Stil interessant finde»,
weil er sehr kräftig gegen die Berhnuzuug unsrer schönem deutschen Sprache
donnert und zum Teil dieselben Versündigungen durchhechelt, die in diesen
Blättern so oft gerügt werden. In einem Punkte jedoch weicht Schopenhauer
von den Grundsätzen aller heutigen Sprachreiniger wesentlich ab: er nimmt
die Fremdwörter in Schutz, weil er sie für eine Bereicherung unsrer Sprache
ansieht, und weil er die meisten von ihnen, namentlich die tvrminl tuowüoi,
für unentbehrlich hält.

Das wäre nun alles ganz schön, wenn nicht zu befürchten wäre, daß die
beiden Giftpilze dieses philosophischen Krautgartens, der Atheismus und der
Pessimismus, mehr Seelen umbringen werden, als von dem nahrhaften Gemüse
darin am Leben erhalten werde». Die Herbart-Lvtzische Richtung, die einzige
außerhalb der kirchengläubigen Kreise, die de» Glaube» an Gott uicht aus¬
schließt, hat nur eine uicht sehr einflußreiche Minderheit der denkenden Geister
sür sich, die Junghegelianer wie die Natnrwissenschafter gelangen auf andern
Wegen zu denselben Zielen wie Schopenhauer, und so wird die Masse der
Gebildeten und noch mehr die der Halbgebildeten die Auffrischung der Schopeu-
hauerschen Beweisführung als eine neue Bestätigung ihrer Lieblingsmeinuugeu
und Herzenswünsche willkommen heißen.

Schopenhauer versucht nämlich den Atheismus auf streug wissenschaft¬
lichem Wege zu beweise», und zwar in dem philosophisch wertvollsten seiner
Werke: in der Untersuchung „über die vierfache Wurzel des Satzes vom zu¬
reichenden Grunde." Er zeigt darin, daß dieser Satz „ein gemeinschaftlicher
Ausdruck mehrerer a xrivri gegebner Erkenntnisse ist." Diese Erkenntnisse be¬
ziehen sich auf vier verschiedne Arte» von Gegenständen: die Aufeinanderfolge
der Erscheinungen, den logischem Zusammenhang unsrer Begriffe, die Wechsel¬
beziehungen der mathematische» Größen unter einander und den Ursprung
unsrer Handlungen. Demnach spaltet sich der Satz vom zureichenden Grunde
in vier Sätze: den Satz vom zureichenden Grnnde des Werdens (z. B. daß
die Verbreuuuugserscheinungen durch Hinzutritt von Sauerstoff zu einem brenn¬
baren Körper verursacht werden); den Satz vom zureichenden Grunde des
Erkennens (der bei jeder Schlußfolgerung angewendet wird); den Satz vom
Grunde des Seins (z. B.: ein Dreieck mit drei gleichen Winkeln ist nur
möglich, wenn die drei Seiten gleich sind; zur Zahl zehn kann ich nnr durch
neun vorhergehende Einheiten gelangen); und das Gesetz der Motivation (keine
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[0032] Schopenhauer leclivlva» Gegenteil jener Lebensweisheit, die des Verfassers Pessimismus fordert) und die vermischten Abhandlungen, die Brasch am Schlüsse des zweiten Bandes zusammenstellt. Sie sind dem zweiten Baude der Parerga und Paralipomena entnommen und zu bekannt, als das; es erlaubt wäre, darauf einzugehen; ihre göttliche Grobheit ist ebenso erfrischend als nachahmenswert. Grcnzbvtenleser müssen namentlich den Aufsatz über Schriftsteller und Stil interessant finde», weil er sehr kräftig gegen die Berhnuzuug unsrer schönem deutschen Sprache donnert und zum Teil dieselben Versündigungen durchhechelt, die in diesen Blättern so oft gerügt werden. In einem Punkte jedoch weicht Schopenhauer von den Grundsätzen aller heutigen Sprachreiniger wesentlich ab: er nimmt die Fremdwörter in Schutz, weil er sie für eine Bereicherung unsrer Sprache ansieht, und weil er die meisten von ihnen, namentlich die tvrminl tuowüoi, für unentbehrlich hält. Das wäre nun alles ganz schön, wenn nicht zu befürchten wäre, daß die beiden Giftpilze dieses philosophischen Krautgartens, der Atheismus und der Pessimismus, mehr Seelen umbringen werden, als von dem nahrhaften Gemüse darin am Leben erhalten werde». Die Herbart-Lvtzische Richtung, die einzige außerhalb der kirchengläubigen Kreise, die de» Glaube» an Gott uicht aus¬ schließt, hat nur eine uicht sehr einflußreiche Minderheit der denkenden Geister sür sich, die Junghegelianer wie die Natnrwissenschafter gelangen auf andern Wegen zu denselben Zielen wie Schopenhauer, und so wird die Masse der Gebildeten und noch mehr die der Halbgebildeten die Auffrischung der Schopeu- hauerschen Beweisführung als eine neue Bestätigung ihrer Lieblingsmeinuugeu und Herzenswünsche willkommen heißen. Schopenhauer versucht nämlich den Atheismus auf streug wissenschaft¬ lichem Wege zu beweise», und zwar in dem philosophisch wertvollsten seiner Werke: in der Untersuchung „über die vierfache Wurzel des Satzes vom zu¬ reichenden Grunde." Er zeigt darin, daß dieser Satz „ein gemeinschaftlicher Ausdruck mehrerer a xrivri gegebner Erkenntnisse ist." Diese Erkenntnisse be¬ ziehen sich auf vier verschiedne Arte» von Gegenständen: die Aufeinanderfolge der Erscheinungen, den logischem Zusammenhang unsrer Begriffe, die Wechsel¬ beziehungen der mathematische» Größen unter einander und den Ursprung unsrer Handlungen. Demnach spaltet sich der Satz vom zureichenden Grunde in vier Sätze: den Satz vom zureichenden Grnnde des Werdens (z. B. daß die Verbreuuuugserscheinungen durch Hinzutritt von Sauerstoff zu einem brenn¬ baren Körper verursacht werden); den Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens (der bei jeder Schlußfolgerung angewendet wird); den Satz vom Grunde des Seins (z. B.: ein Dreieck mit drei gleichen Winkeln ist nur möglich, wenn die drei Seiten gleich sind; zur Zahl zehn kann ich nnr durch neun vorhergehende Einheiten gelangen); und das Gesetz der Motivation (keine Handlung ist denkbar ohne vorhergehenden Beweggrund). Mit diesen vier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/32>, abgerufen am 27.08.2024.