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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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denen es nur einen Kitzel bereitet, den großen Mann das Gewicht ihrer Stimme
fühlen zu lassen, und die nicht einmal an den Hohn der grimmigsten, unver¬
söhnlichen Feinde des deutschen Reiches denken! Daß es deren eine solche
Menge giebt, muß in uus wohl ein unheimliches Gefühl hervorrufen. Was
sie wollen? Ja, wenn sie das wüßten! Die HalbbildungSphilister wissen es
offenbar noch weniger, als die Massen der sozialdemokratischen Partei.

Mit der Lösung: "Rechte so viel als möglich, Pflichten so wenig als
möglich, am liebsten gar keine" große Massen zu gewinnen, das ist am Ende
kein Kunststück, und die Führer im Reichstage sind übertrieben bescheiden, wenn
sie bald Bismarck, bald Puttkamer, bald den Getreidezöllen das Verdienst
zuschreiben, daß sie über immer größere gedankenlose Scharen gebieten. Sie
selbst bringen uns fortwährend in die Verlegenheit, entweder an ihrem gesunden
Menschenverstande oder an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln zu müssen. Daran
ändert es auch nichts, daß sie in den Verhcindlnngen über das Gewerbegesetz
so offenkundig machten, wie sehr ihnen vor Einrichtungen bangt, die den wirk¬
lichen Arbeiter befriedigen könnten, denn das geschah nur in der Hitze des Ge¬
fechtes. Der Arbeiter darf sich nicht in seine Verhältnisse einleben, er darf
nicht seßhaft werden, nicht Interesse an der Erhaltung des ihn beschäftigenden
Unternehmens gewinnen; er soll der Enterbte und Verlassene und Auslade
bleiben, damit.es den Nichtarbeitern nie an Rekruten gebreche. Herr Bebel
leugnet schlechthin, daß es überhaupt noch ein persönliches Verhältnis zwischen
Fabrikherren und Arbeitern gebe, und zum Beweise, daß dies gar nicht mehr
möglich sei, erinnerte er daran, daß ein Mitglied des Hauses Tausende be¬
schäftige. Und einem Menschen mit solcher Logik und einem "Confektionär a. D."
folgen die Arbeiter, von ihnen erwarten sie das goldne Zeitalter! Wem soll
dabei nicht unheimlich werden?




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Das Ausland und die Wahl von Geestemnnde, Auffallenderweise hat
das Ausland dem 15. April mit größerer Spannung entgegengesehen, als das
deutsche Volk. Wir wußten ungefähr, was zu erwarten war, und wußten uns auch
ohne Schwierigkeit zu erklären, warum die Dinge ungefähr so kommen würden.
Das Ausland, dem Deutschland ein unbekanntes Land ist und noch lange bleiben
wird, erwartete von dem Wahltag in Geestemünde etwas wie eine Entscheidung
zwischen dem Fürsten Bismarck und seinen Gegnern, oder zwischen ihm und seinen
Nachfolgern, oder gar zwischen ihm und seinein Monarchen. Als nun der vor¬
läufige Ausfall der Wahl bekannt wurde, die ja noch zu keinem endgiltigen Er¬
gebnis geführt hat, da drangen überallher Stimmen der Verwunderung und des


denen es nur einen Kitzel bereitet, den großen Mann das Gewicht ihrer Stimme
fühlen zu lassen, und die nicht einmal an den Hohn der grimmigsten, unver¬
söhnlichen Feinde des deutschen Reiches denken! Daß es deren eine solche
Menge giebt, muß in uus wohl ein unheimliches Gefühl hervorrufen. Was
sie wollen? Ja, wenn sie das wüßten! Die HalbbildungSphilister wissen es
offenbar noch weniger, als die Massen der sozialdemokratischen Partei.

Mit der Lösung: „Rechte so viel als möglich, Pflichten so wenig als
möglich, am liebsten gar keine" große Massen zu gewinnen, das ist am Ende
kein Kunststück, und die Führer im Reichstage sind übertrieben bescheiden, wenn
sie bald Bismarck, bald Puttkamer, bald den Getreidezöllen das Verdienst
zuschreiben, daß sie über immer größere gedankenlose Scharen gebieten. Sie
selbst bringen uns fortwährend in die Verlegenheit, entweder an ihrem gesunden
Menschenverstande oder an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln zu müssen. Daran
ändert es auch nichts, daß sie in den Verhcindlnngen über das Gewerbegesetz
so offenkundig machten, wie sehr ihnen vor Einrichtungen bangt, die den wirk¬
lichen Arbeiter befriedigen könnten, denn das geschah nur in der Hitze des Ge¬
fechtes. Der Arbeiter darf sich nicht in seine Verhältnisse einleben, er darf
nicht seßhaft werden, nicht Interesse an der Erhaltung des ihn beschäftigenden
Unternehmens gewinnen; er soll der Enterbte und Verlassene und Auslade
bleiben, damit.es den Nichtarbeitern nie an Rekruten gebreche. Herr Bebel
leugnet schlechthin, daß es überhaupt noch ein persönliches Verhältnis zwischen
Fabrikherren und Arbeitern gebe, und zum Beweise, daß dies gar nicht mehr
möglich sei, erinnerte er daran, daß ein Mitglied des Hauses Tausende be¬
schäftige. Und einem Menschen mit solcher Logik und einem „Confektionär a. D."
folgen die Arbeiter, von ihnen erwarten sie das goldne Zeitalter! Wem soll
dabei nicht unheimlich werden?




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Das Ausland und die Wahl von Geestemnnde, Auffallenderweise hat
das Ausland dem 15. April mit größerer Spannung entgegengesehen, als das
deutsche Volk. Wir wußten ungefähr, was zu erwarten war, und wußten uns auch
ohne Schwierigkeit zu erklären, warum die Dinge ungefähr so kommen würden.
Das Ausland, dem Deutschland ein unbekanntes Land ist und noch lange bleiben
wird, erwartete von dem Wahltag in Geestemünde etwas wie eine Entscheidung
zwischen dem Fürsten Bismarck und seinen Gegnern, oder zwischen ihm und seinen
Nachfolgern, oder gar zwischen ihm und seinein Monarchen. Als nun der vor¬
läufige Ausfall der Wahl bekannt wurde, die ja noch zu keinem endgiltigen Er¬
gebnis geführt hat, da drangen überallher Stimmen der Verwunderung und des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/258>, abgerufen am 04.07.2024.