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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das mittelalterliche Soktemvesen

heimlichen Versammlungen ekelhafte Gebräuche beobachtet und allerlei Schänd¬
liches verübt. In den Akten kommt diese Anklage viel seltener vor, als sie
im Volke erhoben worden sein mag, und einmal wird ausdrücklich bemerkt,
daß sich nicht die Waldenser, sondern nur einzelne manichäische Sekten solches
Unfugs schuldig machten. Daß die Beschuldigung ganz unbegründet gewesen
sein sollte, ist kaum glaublich. Vielmehr wäre es im höchsten Grade wunder¬
bar, wenn bei den heimlichen Zusammenkauften schwärmerischer Menschen nicht
hie und da grobe Unordnungen vorgefallen wären. Die Gefahr lag umso
näher, da die übertriebene Askese der Katharer so gut wie die mancher strengen
Mönchs- und Nonnenorden manchmal ins Gegenteil umgeschlagen sein mag,
und da die Lehre, daß der Geist von Gott, der Leib aber vom Teufel stamme,
folgerichtig angewandt die Verantwortung des Geistes für die Handlungen
des Leibes aufhebt, ja die Beherrschung des Leibes durch den Geist als un¬
möglich erscheinen läßt. Die später noch zu erwähnenden Brüder und
Schwestern des freien Geistes gelangten auf anderm Wege zu solchen Grund¬
sätzen; sie erklärten den Menschen für einen Teil Gottes und alle seine Hand¬
lungen für notwendig. Es ist richtig, daß die meisten Katharer solche Folge¬
rungen ausdrücklich ablehnten. Wer durch die Haudaufleguug (oonsoliiMönwin
genannt) den heiligen Geist empfing und in deu Stand der Vollkommenen
versetzt wurde, der durfte zeitlebens kein Weib mehr berühren, kein Fleisch
genießen und kein Eigentum besitzen. Aber eben aus Furcht vor diesen harten
Verpflichtungen verschoben die meisten den Empfang des großen Sakraments
bis in die Stunde des Todes. Und wurden sie Wider Erwarten noch einmal
gesund, so hungerten sie sich wohl, um der Gefahr der Untreue zu entgehen,
zu Tode (unterwarfen sich der Eudura, wie man das naunte) oder wurden
geradezu umgebracht. Die meisten verblieben also im Stande der einfachen
Glünbigen und nahmen es da mit der Sünde nicht genau, weil sie vom Kon-
solamentnm die Tilgung aller Sündenschuld erwarteten. In dieser Praxis
ist wohl die Erklärung dafür zu suchen, wie es möglich war, daß die Heimat
der gA^ii, seisn^i, und der czours ü'a.niour die Abkehr von der Kirche und die
Rückkehr zum Heidentum in der Form des Anschlusses an eine düstere und
asketische Sekte zu vollziehen suchte.

Wie könnte man überhaupt bei heißblütigen, leidenschaftlichen, im ewige
Kämpfe verwickelten, von den entgegengesetztesten Kräften bewegten, keiner
planmäßigen Schulung unterworfenen Völkern irgend welche Folgerichtigkeit
erwarten! Jeder half sich eben, wie er konnte, und war zu Kompromissen
stets bereit. So sagten z. B. einige ans, daß die Häretiker im ganzen einen
rechtschaffenen Wandel führten, andre, daß sie zwar leichtfertig lebten (es
handelt sich jedesmal um einen andern Ort und um andre Personen), daß
aber daran ihre Vorsteher nicht schuld wären, die sie vielmehr zum Gegenteil
anhielten. Einer sagte aus, daß zwar uach der Lehre seiner Sekte jeder ge-


Das mittelalterliche Soktemvesen

heimlichen Versammlungen ekelhafte Gebräuche beobachtet und allerlei Schänd¬
liches verübt. In den Akten kommt diese Anklage viel seltener vor, als sie
im Volke erhoben worden sein mag, und einmal wird ausdrücklich bemerkt,
daß sich nicht die Waldenser, sondern nur einzelne manichäische Sekten solches
Unfugs schuldig machten. Daß die Beschuldigung ganz unbegründet gewesen
sein sollte, ist kaum glaublich. Vielmehr wäre es im höchsten Grade wunder¬
bar, wenn bei den heimlichen Zusammenkauften schwärmerischer Menschen nicht
hie und da grobe Unordnungen vorgefallen wären. Die Gefahr lag umso
näher, da die übertriebene Askese der Katharer so gut wie die mancher strengen
Mönchs- und Nonnenorden manchmal ins Gegenteil umgeschlagen sein mag,
und da die Lehre, daß der Geist von Gott, der Leib aber vom Teufel stamme,
folgerichtig angewandt die Verantwortung des Geistes für die Handlungen
des Leibes aufhebt, ja die Beherrschung des Leibes durch den Geist als un¬
möglich erscheinen läßt. Die später noch zu erwähnenden Brüder und
Schwestern des freien Geistes gelangten auf anderm Wege zu solchen Grund¬
sätzen; sie erklärten den Menschen für einen Teil Gottes und alle seine Hand¬
lungen für notwendig. Es ist richtig, daß die meisten Katharer solche Folge¬
rungen ausdrücklich ablehnten. Wer durch die Haudaufleguug (oonsoliiMönwin
genannt) den heiligen Geist empfing und in deu Stand der Vollkommenen
versetzt wurde, der durfte zeitlebens kein Weib mehr berühren, kein Fleisch
genießen und kein Eigentum besitzen. Aber eben aus Furcht vor diesen harten
Verpflichtungen verschoben die meisten den Empfang des großen Sakraments
bis in die Stunde des Todes. Und wurden sie Wider Erwarten noch einmal
gesund, so hungerten sie sich wohl, um der Gefahr der Untreue zu entgehen,
zu Tode (unterwarfen sich der Eudura, wie man das naunte) oder wurden
geradezu umgebracht. Die meisten verblieben also im Stande der einfachen
Glünbigen und nahmen es da mit der Sünde nicht genau, weil sie vom Kon-
solamentnm die Tilgung aller Sündenschuld erwarteten. In dieser Praxis
ist wohl die Erklärung dafür zu suchen, wie es möglich war, daß die Heimat
der gA^ii, seisn^i, und der czours ü'a.niour die Abkehr von der Kirche und die
Rückkehr zum Heidentum in der Form des Anschlusses an eine düstere und
asketische Sekte zu vollziehen suchte.

Wie könnte man überhaupt bei heißblütigen, leidenschaftlichen, im ewige
Kämpfe verwickelten, von den entgegengesetztesten Kräften bewegten, keiner
planmäßigen Schulung unterworfenen Völkern irgend welche Folgerichtigkeit
erwarten! Jeder half sich eben, wie er konnte, und war zu Kompromissen
stets bereit. So sagten z. B. einige ans, daß die Häretiker im ganzen einen
rechtschaffenen Wandel führten, andre, daß sie zwar leichtfertig lebten (es
handelt sich jedesmal um einen andern Ort und um andre Personen), daß
aber daran ihre Vorsteher nicht schuld wären, die sie vielmehr zum Gegenteil
anhielten. Einer sagte aus, daß zwar uach der Lehre seiner Sekte jeder ge-


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[0240] Das mittelalterliche Soktemvesen heimlichen Versammlungen ekelhafte Gebräuche beobachtet und allerlei Schänd¬ liches verübt. In den Akten kommt diese Anklage viel seltener vor, als sie im Volke erhoben worden sein mag, und einmal wird ausdrücklich bemerkt, daß sich nicht die Waldenser, sondern nur einzelne manichäische Sekten solches Unfugs schuldig machten. Daß die Beschuldigung ganz unbegründet gewesen sein sollte, ist kaum glaublich. Vielmehr wäre es im höchsten Grade wunder¬ bar, wenn bei den heimlichen Zusammenkauften schwärmerischer Menschen nicht hie und da grobe Unordnungen vorgefallen wären. Die Gefahr lag umso näher, da die übertriebene Askese der Katharer so gut wie die mancher strengen Mönchs- und Nonnenorden manchmal ins Gegenteil umgeschlagen sein mag, und da die Lehre, daß der Geist von Gott, der Leib aber vom Teufel stamme, folgerichtig angewandt die Verantwortung des Geistes für die Handlungen des Leibes aufhebt, ja die Beherrschung des Leibes durch den Geist als un¬ möglich erscheinen läßt. Die später noch zu erwähnenden Brüder und Schwestern des freien Geistes gelangten auf anderm Wege zu solchen Grund¬ sätzen; sie erklärten den Menschen für einen Teil Gottes und alle seine Hand¬ lungen für notwendig. Es ist richtig, daß die meisten Katharer solche Folge¬ rungen ausdrücklich ablehnten. Wer durch die Haudaufleguug (oonsoliiMönwin genannt) den heiligen Geist empfing und in deu Stand der Vollkommenen versetzt wurde, der durfte zeitlebens kein Weib mehr berühren, kein Fleisch genießen und kein Eigentum besitzen. Aber eben aus Furcht vor diesen harten Verpflichtungen verschoben die meisten den Empfang des großen Sakraments bis in die Stunde des Todes. Und wurden sie Wider Erwarten noch einmal gesund, so hungerten sie sich wohl, um der Gefahr der Untreue zu entgehen, zu Tode (unterwarfen sich der Eudura, wie man das naunte) oder wurden geradezu umgebracht. Die meisten verblieben also im Stande der einfachen Glünbigen und nahmen es da mit der Sünde nicht genau, weil sie vom Kon- solamentnm die Tilgung aller Sündenschuld erwarteten. In dieser Praxis ist wohl die Erklärung dafür zu suchen, wie es möglich war, daß die Heimat der gA^ii, seisn^i, und der czours ü'a.niour die Abkehr von der Kirche und die Rückkehr zum Heidentum in der Form des Anschlusses an eine düstere und asketische Sekte zu vollziehen suchte. Wie könnte man überhaupt bei heißblütigen, leidenschaftlichen, im ewige Kämpfe verwickelten, von den entgegengesetztesten Kräften bewegten, keiner planmäßigen Schulung unterworfenen Völkern irgend welche Folgerichtigkeit erwarten! Jeder half sich eben, wie er konnte, und war zu Kompromissen stets bereit. So sagten z. B. einige ans, daß die Häretiker im ganzen einen rechtschaffenen Wandel führten, andre, daß sie zwar leichtfertig lebten (es handelt sich jedesmal um einen andern Ort und um andre Personen), daß aber daran ihre Vorsteher nicht schuld wären, die sie vielmehr zum Gegenteil anhielten. Einer sagte aus, daß zwar uach der Lehre seiner Sekte jeder ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/240>, abgerufen am 24.07.2024.