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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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wie gesagt, nicht Theologie treiben, auch keinen Abriß der Sektengeschichte
geben wollen, wie man ihn in Lehrbüchern und im Konversationslexikon findet,
so entnehmen wir den beiden Werken nnr soviel, als für unsern Zweck unbe¬
dingt notwendig ist. Den Lesern dürfte bereits bekannt sein, daß sich die
Katharer zu manichäischen Glaubenssätzen bekannten, während die Waldenser
nur evangelisches Christentum anstrebten, also Reformatoren und Protestanten
waren. Daß bei dieser großen internationalen Volksbewegung die Grundsätze
der beiden Hauptparteien nicht immer sauber nuseinandergehnlten werden
konnten, daß sich ihre Anhänger oft gegen den gemeinsamen Feind, den rö¬
mischen Klerus, verbanden, daß ihre Meinungen oft ineinanderflossen, daß die
Bedeutung der zahlreichen Bezeichnungen für die verschiednen Sekten nicht in
jedem Falle sicher festzustellen ist, und daß viele der frommen oder unfrommen
Schwärmer selbst nicht genau gewußt haben mögen, was sie glaubten und
was sie bestritten, das alles versteht sich von selbst. Die Schrift von Haupt
liefert eine ausführliche Statistik der Verfolgungen. Man erstaunt über die
große Menge der "Ketzer"; im Herzogtnm Österreich allein wird ihre Zahl
einmal auf 80000 angegeben, in Böhmen soll sie noch viel größer gewesen
sein. Natürlich konnte nnr ein kleiner Teil von ihnen gemaßregelt werden,
aber die Zahl der Unglücklichen, die den Feuertod erduldeten, war doch groß
genug; bei der Verfolgung des Jahres 1311 sollen in Krems 1(i, in
Se. Pölten 11, in Wien 102 Personen verbrannt worden sein. Der Ver¬
sasser sucht hauptsächlich zweierlei zu beweisen, daß die deutschen Sektirer nicht
der manichäischen, sondern der waldeusischen Richtung angehört hätten (was
unsers Wissens auch vou niemand bestritten wird), und daß die hnsitische Be-
wegung keineswegs tschechischen Ursprunges sei, daher anch nicht vou Anfang
an einen deutschfeindlichen Charakter getragen habe; vielmehr sei sie als Fort¬
setzung der waldeusischen zu betrachten, die zuerst in den deutschen Bezirken
Böhmens Wurzel gefaßt habe. Das Werk Döllingers besteht ans zwei Teilen.
Der erste enthält eine Geschichte der gnostisch-manichäischen Sekten im Mittel¬
alter, der zweite umfangreichere eine Sammlung von Dokumenten zur Ge¬
schichte der "Valdesier" und Katharer, die Döllinger im Laufe der Zeit ans
italienischen, französischen und deutscheu Archiven zusammengetragen hat. Diese
Urkunden ändern das Bild, das man sich längst von jenen Sekten und von
der zu ihrer Vertilgung eingesetzten Inquisition gemacht hatte, nicht wesentlich,
aber sie beleben es mit manchem interessanten Zuge.

Man ersieht zunächst daraus, daß es bei der Verfolgung der Sektirer
nicht durchweg auf eine so brutale Vernichtung mit Waffengewalt und Scheiter¬
haufen abgesehen war, wie in den Albigenserkriegen, wo ja der Volkshaß
zwischen Nord- und Südfranzosen sowie die Eroberungslust und Habsucht des
Franzvsenköuigs und seiner Barone wesentlich mitwirkten. Nach den bei
Döllinger mitgeteilten Jnguisitionsakten und Widerleguugsschriften zu urteilen,


wie gesagt, nicht Theologie treiben, auch keinen Abriß der Sektengeschichte
geben wollen, wie man ihn in Lehrbüchern und im Konversationslexikon findet,
so entnehmen wir den beiden Werken nnr soviel, als für unsern Zweck unbe¬
dingt notwendig ist. Den Lesern dürfte bereits bekannt sein, daß sich die
Katharer zu manichäischen Glaubenssätzen bekannten, während die Waldenser
nur evangelisches Christentum anstrebten, also Reformatoren und Protestanten
waren. Daß bei dieser großen internationalen Volksbewegung die Grundsätze
der beiden Hauptparteien nicht immer sauber nuseinandergehnlten werden
konnten, daß sich ihre Anhänger oft gegen den gemeinsamen Feind, den rö¬
mischen Klerus, verbanden, daß ihre Meinungen oft ineinanderflossen, daß die
Bedeutung der zahlreichen Bezeichnungen für die verschiednen Sekten nicht in
jedem Falle sicher festzustellen ist, und daß viele der frommen oder unfrommen
Schwärmer selbst nicht genau gewußt haben mögen, was sie glaubten und
was sie bestritten, das alles versteht sich von selbst. Die Schrift von Haupt
liefert eine ausführliche Statistik der Verfolgungen. Man erstaunt über die
große Menge der „Ketzer"; im Herzogtnm Österreich allein wird ihre Zahl
einmal auf 80000 angegeben, in Böhmen soll sie noch viel größer gewesen
sein. Natürlich konnte nnr ein kleiner Teil von ihnen gemaßregelt werden,
aber die Zahl der Unglücklichen, die den Feuertod erduldeten, war doch groß
genug; bei der Verfolgung des Jahres 1311 sollen in Krems 1(i, in
Se. Pölten 11, in Wien 102 Personen verbrannt worden sein. Der Ver¬
sasser sucht hauptsächlich zweierlei zu beweisen, daß die deutschen Sektirer nicht
der manichäischen, sondern der waldeusischen Richtung angehört hätten (was
unsers Wissens auch vou niemand bestritten wird), und daß die hnsitische Be-
wegung keineswegs tschechischen Ursprunges sei, daher anch nicht vou Anfang
an einen deutschfeindlichen Charakter getragen habe; vielmehr sei sie als Fort¬
setzung der waldeusischen zu betrachten, die zuerst in den deutschen Bezirken
Böhmens Wurzel gefaßt habe. Das Werk Döllingers besteht ans zwei Teilen.
Der erste enthält eine Geschichte der gnostisch-manichäischen Sekten im Mittel¬
alter, der zweite umfangreichere eine Sammlung von Dokumenten zur Ge¬
schichte der „Valdesier" und Katharer, die Döllinger im Laufe der Zeit ans
italienischen, französischen und deutscheu Archiven zusammengetragen hat. Diese
Urkunden ändern das Bild, das man sich längst von jenen Sekten und von
der zu ihrer Vertilgung eingesetzten Inquisition gemacht hatte, nicht wesentlich,
aber sie beleben es mit manchem interessanten Zuge.

Man ersieht zunächst daraus, daß es bei der Verfolgung der Sektirer
nicht durchweg auf eine so brutale Vernichtung mit Waffengewalt und Scheiter¬
haufen abgesehen war, wie in den Albigenserkriegen, wo ja der Volkshaß
zwischen Nord- und Südfranzosen sowie die Eroberungslust und Habsucht des
Franzvsenköuigs und seiner Barone wesentlich mitwirkten. Nach den bei
Döllinger mitgeteilten Jnguisitionsakten und Widerleguugsschriften zu urteilen,


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[0238] wie gesagt, nicht Theologie treiben, auch keinen Abriß der Sektengeschichte geben wollen, wie man ihn in Lehrbüchern und im Konversationslexikon findet, so entnehmen wir den beiden Werken nnr soviel, als für unsern Zweck unbe¬ dingt notwendig ist. Den Lesern dürfte bereits bekannt sein, daß sich die Katharer zu manichäischen Glaubenssätzen bekannten, während die Waldenser nur evangelisches Christentum anstrebten, also Reformatoren und Protestanten waren. Daß bei dieser großen internationalen Volksbewegung die Grundsätze der beiden Hauptparteien nicht immer sauber nuseinandergehnlten werden konnten, daß sich ihre Anhänger oft gegen den gemeinsamen Feind, den rö¬ mischen Klerus, verbanden, daß ihre Meinungen oft ineinanderflossen, daß die Bedeutung der zahlreichen Bezeichnungen für die verschiednen Sekten nicht in jedem Falle sicher festzustellen ist, und daß viele der frommen oder unfrommen Schwärmer selbst nicht genau gewußt haben mögen, was sie glaubten und was sie bestritten, das alles versteht sich von selbst. Die Schrift von Haupt liefert eine ausführliche Statistik der Verfolgungen. Man erstaunt über die große Menge der „Ketzer"; im Herzogtnm Österreich allein wird ihre Zahl einmal auf 80000 angegeben, in Böhmen soll sie noch viel größer gewesen sein. Natürlich konnte nnr ein kleiner Teil von ihnen gemaßregelt werden, aber die Zahl der Unglücklichen, die den Feuertod erduldeten, war doch groß genug; bei der Verfolgung des Jahres 1311 sollen in Krems 1(i, in Se. Pölten 11, in Wien 102 Personen verbrannt worden sein. Der Ver¬ sasser sucht hauptsächlich zweierlei zu beweisen, daß die deutschen Sektirer nicht der manichäischen, sondern der waldeusischen Richtung angehört hätten (was unsers Wissens auch vou niemand bestritten wird), und daß die hnsitische Be- wegung keineswegs tschechischen Ursprunges sei, daher anch nicht vou Anfang an einen deutschfeindlichen Charakter getragen habe; vielmehr sei sie als Fort¬ setzung der waldeusischen zu betrachten, die zuerst in den deutschen Bezirken Böhmens Wurzel gefaßt habe. Das Werk Döllingers besteht ans zwei Teilen. Der erste enthält eine Geschichte der gnostisch-manichäischen Sekten im Mittel¬ alter, der zweite umfangreichere eine Sammlung von Dokumenten zur Ge¬ schichte der „Valdesier" und Katharer, die Döllinger im Laufe der Zeit ans italienischen, französischen und deutscheu Archiven zusammengetragen hat. Diese Urkunden ändern das Bild, das man sich längst von jenen Sekten und von der zu ihrer Vertilgung eingesetzten Inquisition gemacht hatte, nicht wesentlich, aber sie beleben es mit manchem interessanten Zuge. Man ersieht zunächst daraus, daß es bei der Verfolgung der Sektirer nicht durchweg auf eine so brutale Vernichtung mit Waffengewalt und Scheiter¬ haufen abgesehen war, wie in den Albigenserkriegen, wo ja der Volkshaß zwischen Nord- und Südfranzosen sowie die Eroberungslust und Habsucht des Franzvsenköuigs und seiner Barone wesentlich mitwirkten. Nach den bei Döllinger mitgeteilten Jnguisitionsakten und Widerleguugsschriften zu urteilen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/238>, abgerufen am 24.07.2024.