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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das mittelalterliche Sektenwesen

bezeichnet, die gar nicht anders könnten, als die Werke ihres Vaters, des
Fürsten der Finsternis thun, während er mit seinen wenigen Auserwählten im
Lichte wandte.

Hatte also Gott seine Weltherrschaft mit einem bösen Geiste zu teilen,
wobei für die Praxis wenig darauf ankam, ob man sich den Fürsten der
Finsternis als ein abtrünniges Geschöpf des guten Gottes dachte oder als
einen von Ewigkeit her unabhängig lebenden bösen Gegengott, so konnten die
Grübler nicht umhin, nach der Grenzlinie zwischen beiden Gebieten zu suchen.
Da lag es denn nahe, den Geist dem Himmel, das Fleisch aber der Hölle
zuzuleiten, zumal da ja eine solche Teilung im Neuen Testament begründet zu
sein schien. Daraus folgte dann die Verpflichtung auf eine asketische Moral
von selbst, sowie die Deutung des Sündenfalls als des ersten Erwachens des
Geschlechtstriebes. Auch hierfür konnten neutestamentliche Stellen angerufen
werden, die in den europäischen Völkern allerlei Gewissensbedenken hervor¬
riefen, die sie bis dahin nicht gekannt hatten. Deun sie hatten die geschlecht¬
lichen Dinge ganz naiv als imwriüm non wrpm behandelt und waren nur darauf
bedacht gewesen, sie in einer dem Gemeinwesen zuträglichen Weise zu ordnen.
Ganz unmerklich ging nun die rechtgläubige Teufelsmystik und Askese an vielen
Orten zugleich in die manichäische über. Es bedarf Wohl kaum der ausdrück¬
lichen Erwähnung, daß diese Richtung bis auf den heutigen Tag lebendig ge¬
blieben ist und gerade jetzt sogar aufs neue eine Macht werden zu wollen
scheint. Calvins strenge Sittenzucht hat seinerzeit sehr heilsam gewirkt, aber
philosophisch angesehen, trägt seine Prndestinationslehre einen ganz manichäischen
Charakter. Nachdem die dogmatische Form bei der Einkleidung von Zeit-
meiuuugen aus der Mode gekommen ist, hat sich der Manichäismus in die
weltliche Philosophie geflüchtet. Bei Schopenhauer erscheint Ahuramazda, der
Lichtgott, als Intellekt, und Augramainyus, der Fürst der Finsternis, als
Wille; freilich richtet dieser blinde Hödur mehr durch Dummheit als durch
Bosheit Unheil an. Über Rußland aber beziehen wir gegenwärtig den alten
Manichüergeist mit wohlschmeckenden (hie und da auch übelschmeckeudeu und
riechenden) Essenzen modernsten Fabrikats versetzt und in zierliche Flaschen
verpackt, frisch von seiner orientalischem Quelle. Bei Tolstoi und Dostojewsky
tritt sogar zu dieser dritten sektenbildenden Kraft auch noch die erste, das
Streben nach Wiederherstellung des Urchristentums, nach Verwirklichung der
reinen christlichen Idee; das Christentum der Bergpredigt zu verwirklichet!,
hat sich ja der edle Schwärmer Graf Tolstoi zur Lebensaufgabe erwühlt.

Zwei Erscheinungen der theologischen Litteratur sind es, die uns zu
diesen Betrachtungen angeregt haben: 1. Waldensertum und Inquisition
im südöstlichen Deutschland von Hermann Haupt (Freiburg i. Br., C. B.
Mohr, 1890); 2. Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters
von Jgn. von Döllinger (München, C. H. Beck, 1890). Dn wir hier,


Grenzboten II 1391 30
Das mittelalterliche Sektenwesen

bezeichnet, die gar nicht anders könnten, als die Werke ihres Vaters, des
Fürsten der Finsternis thun, während er mit seinen wenigen Auserwählten im
Lichte wandte.

Hatte also Gott seine Weltherrschaft mit einem bösen Geiste zu teilen,
wobei für die Praxis wenig darauf ankam, ob man sich den Fürsten der
Finsternis als ein abtrünniges Geschöpf des guten Gottes dachte oder als
einen von Ewigkeit her unabhängig lebenden bösen Gegengott, so konnten die
Grübler nicht umhin, nach der Grenzlinie zwischen beiden Gebieten zu suchen.
Da lag es denn nahe, den Geist dem Himmel, das Fleisch aber der Hölle
zuzuleiten, zumal da ja eine solche Teilung im Neuen Testament begründet zu
sein schien. Daraus folgte dann die Verpflichtung auf eine asketische Moral
von selbst, sowie die Deutung des Sündenfalls als des ersten Erwachens des
Geschlechtstriebes. Auch hierfür konnten neutestamentliche Stellen angerufen
werden, die in den europäischen Völkern allerlei Gewissensbedenken hervor¬
riefen, die sie bis dahin nicht gekannt hatten. Deun sie hatten die geschlecht¬
lichen Dinge ganz naiv als imwriüm non wrpm behandelt und waren nur darauf
bedacht gewesen, sie in einer dem Gemeinwesen zuträglichen Weise zu ordnen.
Ganz unmerklich ging nun die rechtgläubige Teufelsmystik und Askese an vielen
Orten zugleich in die manichäische über. Es bedarf Wohl kaum der ausdrück¬
lichen Erwähnung, daß diese Richtung bis auf den heutigen Tag lebendig ge¬
blieben ist und gerade jetzt sogar aufs neue eine Macht werden zu wollen
scheint. Calvins strenge Sittenzucht hat seinerzeit sehr heilsam gewirkt, aber
philosophisch angesehen, trägt seine Prndestinationslehre einen ganz manichäischen
Charakter. Nachdem die dogmatische Form bei der Einkleidung von Zeit-
meiuuugen aus der Mode gekommen ist, hat sich der Manichäismus in die
weltliche Philosophie geflüchtet. Bei Schopenhauer erscheint Ahuramazda, der
Lichtgott, als Intellekt, und Augramainyus, der Fürst der Finsternis, als
Wille; freilich richtet dieser blinde Hödur mehr durch Dummheit als durch
Bosheit Unheil an. Über Rußland aber beziehen wir gegenwärtig den alten
Manichüergeist mit wohlschmeckenden (hie und da auch übelschmeckeudeu und
riechenden) Essenzen modernsten Fabrikats versetzt und in zierliche Flaschen
verpackt, frisch von seiner orientalischem Quelle. Bei Tolstoi und Dostojewsky
tritt sogar zu dieser dritten sektenbildenden Kraft auch noch die erste, das
Streben nach Wiederherstellung des Urchristentums, nach Verwirklichung der
reinen christlichen Idee; das Christentum der Bergpredigt zu verwirklichet!,
hat sich ja der edle Schwärmer Graf Tolstoi zur Lebensaufgabe erwühlt.

Zwei Erscheinungen der theologischen Litteratur sind es, die uns zu
diesen Betrachtungen angeregt haben: 1. Waldensertum und Inquisition
im südöstlichen Deutschland von Hermann Haupt (Freiburg i. Br., C. B.
Mohr, 1890); 2. Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters
von Jgn. von Döllinger (München, C. H. Beck, 1890). Dn wir hier,


Grenzboten II 1391 30
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[0237] Das mittelalterliche Sektenwesen bezeichnet, die gar nicht anders könnten, als die Werke ihres Vaters, des Fürsten der Finsternis thun, während er mit seinen wenigen Auserwählten im Lichte wandte. Hatte also Gott seine Weltherrschaft mit einem bösen Geiste zu teilen, wobei für die Praxis wenig darauf ankam, ob man sich den Fürsten der Finsternis als ein abtrünniges Geschöpf des guten Gottes dachte oder als einen von Ewigkeit her unabhängig lebenden bösen Gegengott, so konnten die Grübler nicht umhin, nach der Grenzlinie zwischen beiden Gebieten zu suchen. Da lag es denn nahe, den Geist dem Himmel, das Fleisch aber der Hölle zuzuleiten, zumal da ja eine solche Teilung im Neuen Testament begründet zu sein schien. Daraus folgte dann die Verpflichtung auf eine asketische Moral von selbst, sowie die Deutung des Sündenfalls als des ersten Erwachens des Geschlechtstriebes. Auch hierfür konnten neutestamentliche Stellen angerufen werden, die in den europäischen Völkern allerlei Gewissensbedenken hervor¬ riefen, die sie bis dahin nicht gekannt hatten. Deun sie hatten die geschlecht¬ lichen Dinge ganz naiv als imwriüm non wrpm behandelt und waren nur darauf bedacht gewesen, sie in einer dem Gemeinwesen zuträglichen Weise zu ordnen. Ganz unmerklich ging nun die rechtgläubige Teufelsmystik und Askese an vielen Orten zugleich in die manichäische über. Es bedarf Wohl kaum der ausdrück¬ lichen Erwähnung, daß diese Richtung bis auf den heutigen Tag lebendig ge¬ blieben ist und gerade jetzt sogar aufs neue eine Macht werden zu wollen scheint. Calvins strenge Sittenzucht hat seinerzeit sehr heilsam gewirkt, aber philosophisch angesehen, trägt seine Prndestinationslehre einen ganz manichäischen Charakter. Nachdem die dogmatische Form bei der Einkleidung von Zeit- meiuuugen aus der Mode gekommen ist, hat sich der Manichäismus in die weltliche Philosophie geflüchtet. Bei Schopenhauer erscheint Ahuramazda, der Lichtgott, als Intellekt, und Augramainyus, der Fürst der Finsternis, als Wille; freilich richtet dieser blinde Hödur mehr durch Dummheit als durch Bosheit Unheil an. Über Rußland aber beziehen wir gegenwärtig den alten Manichüergeist mit wohlschmeckenden (hie und da auch übelschmeckeudeu und riechenden) Essenzen modernsten Fabrikats versetzt und in zierliche Flaschen verpackt, frisch von seiner orientalischem Quelle. Bei Tolstoi und Dostojewsky tritt sogar zu dieser dritten sektenbildenden Kraft auch noch die erste, das Streben nach Wiederherstellung des Urchristentums, nach Verwirklichung der reinen christlichen Idee; das Christentum der Bergpredigt zu verwirklichet!, hat sich ja der edle Schwärmer Graf Tolstoi zur Lebensaufgabe erwühlt. Zwei Erscheinungen der theologischen Litteratur sind es, die uns zu diesen Betrachtungen angeregt haben: 1. Waldensertum und Inquisition im südöstlichen Deutschland von Hermann Haupt (Freiburg i. Br., C. B. Mohr, 1890); 2. Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters von Jgn. von Döllinger (München, C. H. Beck, 1890). Dn wir hier, Grenzboten II 1391 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/237>, abgerufen am 24.07.2024.