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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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gebnisse erweisen sich gewöhnlich als völlig entgegengesetzt denen, die die
Verfolger im Ange hatten.

Die Mißachtung fremder und besonders unterworfener Nationalitäten
widerspricht augenscheinlich dem nationalen Prinzip, ist aber trotzdem
wie zum notwendigen Kennzeichen des nationalen Patriotismus geworden.
Selbst vom Gesichtspunkt des engen nationalen Egoismus ans ist es nicht
vorteilhaft und nicht zweckmäßig, sich an das Verfahren zu halten, das die
Engländer auf Irland anwandten und die Deutschen jetzt zum Teil in Elsaß
und Lothringen anwenden. Aber die Mehrzahl der Leute, die die Theorie
der gewaltsamen Verdeutschung, Vermagharuug, Verrussung u. s. w- predigen,
glaubt aufrichtig auf dem Boden der nationalen Idee zu steheu. Die Sorge
um die Entwicklung und Blüte des Heimischen wird ersetzt durch Verfolgen
und Niedertreten des Fremden; gegenseitige Verhetzung, Feindschaft und Haß
werden zum Raug politischer Regeln erhoben und mit den höchsten Staats¬
interessen vermengt. Es ist'traurig, zu sehen, daß diese Richtung von leitenden
Geistern des heutigen Deutschlands genährt und gestützt wird.

Die Herrschaft des nationalen Prinzips in der Politik konnte festen
Boden gewinnen und ihren heutigen Charakter annehmen, nur seitdem der
Individualismus zur Grundlage des politischen Lebens erhoben worden war.
Die Leere, die das Verschwinden der örtlichen und korporativen Bande,
der Verfall der Autonomie von Gemeinde und Landschaft zurückgelassen
hatte, füllte sich leicht aus durch ein allgemeineres und unbestimmteres
Element, das lange nur eine zweite Rolle in den Fragen des Staatslebens
gespielt hatte. Einst galt die Mannichfaltigkeit der Stämme und Sprachen
unter einer politischen Herrschaft als Zeichen der Macht und Größe des
Staates. Mit dem Zerfall der ständischen und kommunalen Körperschaften, als
die verschiednen autonomen, die Persönlichkeit umgebenden Kreise einer
nach dem andern verdrängt wurden von der alles verschlingenden und nivel-
lirenden Herrschaft des Staates, blieb für das geschwächte soziale Gefühl der
Menschen nur eine Zuflucht übrig: der Nationalismus. Die vereinzelten Per¬
sonen suchen Beruhigung in dem Bewußtsein, daß sie alle zu einem viel-
millionigen Ganzen gehören, das ihre innere Ohnmacht decken und auf sie einen
Abglanz seines wirklichen oder vermeintlichen Ruhmes unter den Völkern der
Welt werfen könnte.

Aber der Nationalismus an sich kann dem sozialen Gefühl keine Be¬
friedigung geben und giebt sie nicht: dieses Gefühl, ans Millionen von Wesen
verteilt, verliert seine Kraft, wird verschwommen, unbestimmt, oft phantastisch.
solidarisch sein bloß mit dem Stamm, der Nation, mit Zehnern von Mil¬
lionen des Volkes, das heißt in Wahrheit mit niemandem im besondern soli¬
darisch sein. Darum bedarf der Nationalismus der beständigen künstlichen
Erregung, um den sozialen Instinkten der Mehrheit wenigstens eine scheinbare


gebnisse erweisen sich gewöhnlich als völlig entgegengesetzt denen, die die
Verfolger im Ange hatten.

Die Mißachtung fremder und besonders unterworfener Nationalitäten
widerspricht augenscheinlich dem nationalen Prinzip, ist aber trotzdem
wie zum notwendigen Kennzeichen des nationalen Patriotismus geworden.
Selbst vom Gesichtspunkt des engen nationalen Egoismus ans ist es nicht
vorteilhaft und nicht zweckmäßig, sich an das Verfahren zu halten, das die
Engländer auf Irland anwandten und die Deutschen jetzt zum Teil in Elsaß
und Lothringen anwenden. Aber die Mehrzahl der Leute, die die Theorie
der gewaltsamen Verdeutschung, Vermagharuug, Verrussung u. s. w- predigen,
glaubt aufrichtig auf dem Boden der nationalen Idee zu steheu. Die Sorge
um die Entwicklung und Blüte des Heimischen wird ersetzt durch Verfolgen
und Niedertreten des Fremden; gegenseitige Verhetzung, Feindschaft und Haß
werden zum Raug politischer Regeln erhoben und mit den höchsten Staats¬
interessen vermengt. Es ist'traurig, zu sehen, daß diese Richtung von leitenden
Geistern des heutigen Deutschlands genährt und gestützt wird.

Die Herrschaft des nationalen Prinzips in der Politik konnte festen
Boden gewinnen und ihren heutigen Charakter annehmen, nur seitdem der
Individualismus zur Grundlage des politischen Lebens erhoben worden war.
Die Leere, die das Verschwinden der örtlichen und korporativen Bande,
der Verfall der Autonomie von Gemeinde und Landschaft zurückgelassen
hatte, füllte sich leicht aus durch ein allgemeineres und unbestimmteres
Element, das lange nur eine zweite Rolle in den Fragen des Staatslebens
gespielt hatte. Einst galt die Mannichfaltigkeit der Stämme und Sprachen
unter einer politischen Herrschaft als Zeichen der Macht und Größe des
Staates. Mit dem Zerfall der ständischen und kommunalen Körperschaften, als
die verschiednen autonomen, die Persönlichkeit umgebenden Kreise einer
nach dem andern verdrängt wurden von der alles verschlingenden und nivel-
lirenden Herrschaft des Staates, blieb für das geschwächte soziale Gefühl der
Menschen nur eine Zuflucht übrig: der Nationalismus. Die vereinzelten Per¬
sonen suchen Beruhigung in dem Bewußtsein, daß sie alle zu einem viel-
millionigen Ganzen gehören, das ihre innere Ohnmacht decken und auf sie einen
Abglanz seines wirklichen oder vermeintlichen Ruhmes unter den Völkern der
Welt werfen könnte.

Aber der Nationalismus an sich kann dem sozialen Gefühl keine Be¬
friedigung geben und giebt sie nicht: dieses Gefühl, ans Millionen von Wesen
verteilt, verliert seine Kraft, wird verschwommen, unbestimmt, oft phantastisch.
solidarisch sein bloß mit dem Stamm, der Nation, mit Zehnern von Mil¬
lionen des Volkes, das heißt in Wahrheit mit niemandem im besondern soli¬
darisch sein. Darum bedarf der Nationalismus der beständigen künstlichen
Erregung, um den sozialen Instinkten der Mehrheit wenigstens eine scheinbare


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/119>, abgerufen am 24.07.2024.