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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Befriedigung zu gewähren. Diese künstliche Erregung wird hervorgebracht
und genährt durch jene internationale Bedrückung, die Zwietracht und Mi߬
trauen sät, ewig fremdländische Intriguen und Nuschläge fürchten läßt, eine
chronische Beunruhigung schafft und zur Grundlage der praktischen, angeblich
der realen Politik gemacht wird. Daher die eigentümliche, einseitige Richtung
des heutigen Nationalismus: die nationale Solidarität wird verherrlicht, nicht
für gemeinsame Anstrengungen zum Volkswohl, zur Mehrung seines materiellen
Wohlstandes, seines geistigen und sittlichen Standes, sondern zur Unter¬
haltung von Feindschaft und Unduldsamkeit gegen Landfremde und Volks-
freude, gegen benachbarte und entfernte Regierungen, gegen fremde Nassen
und Stämme, auch wenn diese friedlich in den Grenzen des gegebenen Staates
wohnen. Die nationalen Patrioten des neuen Typus reden und mühen sich
am wenigsten um das soziale und geistige Gedeihen der Nation; sie sind sogar
bereit, die, die ihre Sinne nach dieser Seite richten, des Mangels an Patrio¬
tismus anzuklagen. Sie vergessen dabei, daß uur die geistige Entwicklung
und der wirtschaftliche Wohlstand des Volkes ihm eine selbständige Rolle
sichern und die Wahrscheinlichkeit dauernden Erfolges im Wettstreit mit den
Kulturvölkern gewähren.

Im weitern Verfolg seiner Erörterung wendet sich der Verfasser noch
deutlicher gegen die neueste nationale Hetze in Rußland. Wenn alte und neuere
Schäden -- sagt er -- zu trauriger wirtschaftlicher Lage führen, so ist es am
besten, die Verantwortung dafür den fremden Ansiedlern, Fabrikanten und
Schustern, aufzubürden, die vorgeblich der einheimischen Bevölkerung das
tägliche Brot vorweg nehmen. Wenn eine unerfreuliche, wirtschaftliche Lage,
der Mangel an sittlichem Halt und an Mitteln der Bildung das Volk in die
Höhlen des Trunks und der Ausschweifung treibe", so erscheint als Ursache
davon wiederum der Fremdling, der an der Errichtung und Unterhaltung von
Schankwirtschafteu teilnimmt. Dem verderblichen Einfluß der Fremden werden
die Fehler und -Mißerfolge in der äußern Politik zugeschrieben, auch wen" es
keinem Zweifel unterlag, daß diese Fehler durch reinblütige einheimische Leute be¬
gangen worden waren. Auf diese Weise werden gleichzeitig zwei Ziele erreicht: es
werden die Ursachen verschiedner Übel ohne Schaden für die leitenden Kreise auf¬
gestöbert, und zugleich wird der allgemeinen Aufmerksamkeit der gefahrloseste
Ausgang für die mögliche Unzufriedenheit und Erbitterung empfohlen. Die
Verfolgung der Fremden ist das ableitende Mittel, um unentwickelte Köpfe zu
befriedigen; sie giebt einen augenfälligen Anschein selbständigen, politischen
Urteils, während eine wirkliche Schätzung des Bestehenden und Geschehenden
dein öffentlichen Wort wenig zugänglich ist. Dieses einfache Verfahren ist für
viele um so verführerischer, als es einen leichten und kostenfreieil Weg dar¬
bietet zur Erlangung des vorteilhaften Rufes eines eifrigen und zu allein
bereiten Patrioten. Von den westlichen Grenzländern Rußlands, in denen


Befriedigung zu gewähren. Diese künstliche Erregung wird hervorgebracht
und genährt durch jene internationale Bedrückung, die Zwietracht und Mi߬
trauen sät, ewig fremdländische Intriguen und Nuschläge fürchten läßt, eine
chronische Beunruhigung schafft und zur Grundlage der praktischen, angeblich
der realen Politik gemacht wird. Daher die eigentümliche, einseitige Richtung
des heutigen Nationalismus: die nationale Solidarität wird verherrlicht, nicht
für gemeinsame Anstrengungen zum Volkswohl, zur Mehrung seines materiellen
Wohlstandes, seines geistigen und sittlichen Standes, sondern zur Unter¬
haltung von Feindschaft und Unduldsamkeit gegen Landfremde und Volks-
freude, gegen benachbarte und entfernte Regierungen, gegen fremde Nassen
und Stämme, auch wenn diese friedlich in den Grenzen des gegebenen Staates
wohnen. Die nationalen Patrioten des neuen Typus reden und mühen sich
am wenigsten um das soziale und geistige Gedeihen der Nation; sie sind sogar
bereit, die, die ihre Sinne nach dieser Seite richten, des Mangels an Patrio¬
tismus anzuklagen. Sie vergessen dabei, daß uur die geistige Entwicklung
und der wirtschaftliche Wohlstand des Volkes ihm eine selbständige Rolle
sichern und die Wahrscheinlichkeit dauernden Erfolges im Wettstreit mit den
Kulturvölkern gewähren.

Im weitern Verfolg seiner Erörterung wendet sich der Verfasser noch
deutlicher gegen die neueste nationale Hetze in Rußland. Wenn alte und neuere
Schäden — sagt er — zu trauriger wirtschaftlicher Lage führen, so ist es am
besten, die Verantwortung dafür den fremden Ansiedlern, Fabrikanten und
Schustern, aufzubürden, die vorgeblich der einheimischen Bevölkerung das
tägliche Brot vorweg nehmen. Wenn eine unerfreuliche, wirtschaftliche Lage,
der Mangel an sittlichem Halt und an Mitteln der Bildung das Volk in die
Höhlen des Trunks und der Ausschweifung treibe», so erscheint als Ursache
davon wiederum der Fremdling, der an der Errichtung und Unterhaltung von
Schankwirtschafteu teilnimmt. Dem verderblichen Einfluß der Fremden werden
die Fehler und -Mißerfolge in der äußern Politik zugeschrieben, auch wen» es
keinem Zweifel unterlag, daß diese Fehler durch reinblütige einheimische Leute be¬
gangen worden waren. Auf diese Weise werden gleichzeitig zwei Ziele erreicht: es
werden die Ursachen verschiedner Übel ohne Schaden für die leitenden Kreise auf¬
gestöbert, und zugleich wird der allgemeinen Aufmerksamkeit der gefahrloseste
Ausgang für die mögliche Unzufriedenheit und Erbitterung empfohlen. Die
Verfolgung der Fremden ist das ableitende Mittel, um unentwickelte Köpfe zu
befriedigen; sie giebt einen augenfälligen Anschein selbständigen, politischen
Urteils, während eine wirkliche Schätzung des Bestehenden und Geschehenden
dein öffentlichen Wort wenig zugänglich ist. Dieses einfache Verfahren ist für
viele um so verführerischer, als es einen leichten und kostenfreieil Weg dar¬
bietet zur Erlangung des vorteilhaften Rufes eines eifrigen und zu allein
bereiten Patrioten. Von den westlichen Grenzländern Rußlands, in denen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/120>, abgerufen am 24.07.2024.