Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.Der Nationalismus zwecklosen Kampf und Wettkampf, durch ununterbrochene Bedrohungen und Der Nationalismus zwecklosen Kampf und Wettkampf, durch ununterbrochene Bedrohungen und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0118" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209985"/> <fw type="header" place="top"> Der Nationalismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_308" prev="#ID_307" next="#ID_309"> zwecklosen Kampf und Wettkampf, durch ununterbrochene Bedrohungen und<lb/> Bewaffnungen vergiftet. Die freie Selbstbestimmung der Nation hat sich in<lb/> ein System gezwungener Einheit verwandelt, die durch eine Million Bajonette<lb/> aufrecht erhalten wird. Die politische Einheit, nach der die Deutschen ehemals<lb/> strebten, diente als Vorwand für eine Politik der Eroberungen und Ver¬<lb/> gewaltigungen; die nationale Idee wurde zu einem Werkzeug der Zermalmung<lb/> nationaler Rechte, und der befreiende Sinn des Nationalismus verschwand<lb/> völlig in der Hand eines Staates, der es verstand, die Volksbewegung auf<lb/> eine Stärkung seiner eignen Macht und auf eine nie zuvor erlebte Entwicklung<lb/> des Militarismus hiu zu richten. Statt der allgemeinen Befriedigung und<lb/> Beruhigung, die die Anhänger und Kämpfer der nationalen Idee erwarteten,<lb/> ist eine Zeit ungesunder internationaler Agitation, des beständigen Alarms<lb/> und des Mißtrauens gegen den nächsten Tag gekommen. Das Gefühl des<lb/> innern nationalen Zusammenhanges geht in etwas andres über: in grundlose»,<lb/> absichtlich erregten und unterhaltenen Haß gegen fremde Volker und Stämme,<lb/> in die verderbliche Gewohnheit patriotischer Selbstcrhöhnng und Selbstzufrieden¬<lb/> heit, in deu maßlose» Kultus der materiellen Kraft, in die Predigt des seelen-<lb/> losen nationalen Egoismus, in die cynische Verneinung der Ideale der Humanität<lb/> und der Freiheit. Dieselben lauten Worte, in deren Namen die Patrioten<lb/> der frühern Zeit kämpften und starben, werden auch jetzt noch gebraucht; aber<lb/> wie herabgekommen und verkümmert ist ihr Inhalt, welch elender und ärm¬<lb/> licher Sinn wird ihnen von den neuesten Auslegern des nationalen Prinzips<lb/> beigelegt! Die hohen politischen Ideen, die aus der geistigen und gesellschaft¬<lb/> lichen Arbeit einiger Geschlechter hervorgegangen waren und sich das Bürger¬<lb/> recht in Europa erobert hatten, wurden ausgewechselt gegen die Scheidemünze<lb/> des landläufigen „Volkspatriotismus," der anmaßend und prahlerisch nach<lb/> außen, sklavisch und niedrig im Jnnern ist. Rechnung auf Landerwerbungen<lb/> auf Kosten der Nachbarn, Neigung zu gewaltsamer Verbreitung der eignen<lb/> Nationalität zum Schaden andrer, allgemeine Gier nach staatlicher Größe,<lb/> die zerstörend ist für die Volker — das sind die zeitgenössischen Formen, in<lb/> die die Idee des Nationalismus verwandelt wurde. Es ist eine endlose Kette<lb/> geheimer und offener Unterdrückungen, in denen dieselbe Nationalität der Reihe<lb/> nach bald die Rolle des Amboß, bald die des Hammers, bald die des Tyrannen,<lb/> bald die des Opfers spielt. Aber die allgemeine Jagd nach fremdem nationalem<lb/> Besitz bewirkt nichts andres, als allgemeine Verbitterung und sittliche Verderbnis.<lb/> Die verfolgte Nation findet ihren Schwerpunkt nur in sich selbst und lernt<lb/> ihren überlieferten geistigen Bestand höher schätzen: ihre Sprache und Religion,<lb/> ihre Sitten und Rechte; die natürliche Feindseligkeit gegen die Unterdrücker<lb/> versperrt den Weg freiwilliger Verschmelzung, und das nationale Gefühl, das<lb/> schon erstickt schien, schlägt plötzlich mit ungewöhnlicher Kraft auf, Freunde<lb/> und Feinde durch seine unüberwindliche Lebenskraft überraschend. Die Er-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0118]
Der Nationalismus
zwecklosen Kampf und Wettkampf, durch ununterbrochene Bedrohungen und
Bewaffnungen vergiftet. Die freie Selbstbestimmung der Nation hat sich in
ein System gezwungener Einheit verwandelt, die durch eine Million Bajonette
aufrecht erhalten wird. Die politische Einheit, nach der die Deutschen ehemals
strebten, diente als Vorwand für eine Politik der Eroberungen und Ver¬
gewaltigungen; die nationale Idee wurde zu einem Werkzeug der Zermalmung
nationaler Rechte, und der befreiende Sinn des Nationalismus verschwand
völlig in der Hand eines Staates, der es verstand, die Volksbewegung auf
eine Stärkung seiner eignen Macht und auf eine nie zuvor erlebte Entwicklung
des Militarismus hiu zu richten. Statt der allgemeinen Befriedigung und
Beruhigung, die die Anhänger und Kämpfer der nationalen Idee erwarteten,
ist eine Zeit ungesunder internationaler Agitation, des beständigen Alarms
und des Mißtrauens gegen den nächsten Tag gekommen. Das Gefühl des
innern nationalen Zusammenhanges geht in etwas andres über: in grundlose»,
absichtlich erregten und unterhaltenen Haß gegen fremde Volker und Stämme,
in die verderbliche Gewohnheit patriotischer Selbstcrhöhnng und Selbstzufrieden¬
heit, in deu maßlose» Kultus der materiellen Kraft, in die Predigt des seelen-
losen nationalen Egoismus, in die cynische Verneinung der Ideale der Humanität
und der Freiheit. Dieselben lauten Worte, in deren Namen die Patrioten
der frühern Zeit kämpften und starben, werden auch jetzt noch gebraucht; aber
wie herabgekommen und verkümmert ist ihr Inhalt, welch elender und ärm¬
licher Sinn wird ihnen von den neuesten Auslegern des nationalen Prinzips
beigelegt! Die hohen politischen Ideen, die aus der geistigen und gesellschaft¬
lichen Arbeit einiger Geschlechter hervorgegangen waren und sich das Bürger¬
recht in Europa erobert hatten, wurden ausgewechselt gegen die Scheidemünze
des landläufigen „Volkspatriotismus," der anmaßend und prahlerisch nach
außen, sklavisch und niedrig im Jnnern ist. Rechnung auf Landerwerbungen
auf Kosten der Nachbarn, Neigung zu gewaltsamer Verbreitung der eignen
Nationalität zum Schaden andrer, allgemeine Gier nach staatlicher Größe,
die zerstörend ist für die Volker — das sind die zeitgenössischen Formen, in
die die Idee des Nationalismus verwandelt wurde. Es ist eine endlose Kette
geheimer und offener Unterdrückungen, in denen dieselbe Nationalität der Reihe
nach bald die Rolle des Amboß, bald die des Hammers, bald die des Tyrannen,
bald die des Opfers spielt. Aber die allgemeine Jagd nach fremdem nationalem
Besitz bewirkt nichts andres, als allgemeine Verbitterung und sittliche Verderbnis.
Die verfolgte Nation findet ihren Schwerpunkt nur in sich selbst und lernt
ihren überlieferten geistigen Bestand höher schätzen: ihre Sprache und Religion,
ihre Sitten und Rechte; die natürliche Feindseligkeit gegen die Unterdrücker
versperrt den Weg freiwilliger Verschmelzung, und das nationale Gefühl, das
schon erstickt schien, schlägt plötzlich mit ungewöhnlicher Kraft auf, Freunde
und Feinde durch seine unüberwindliche Lebenskraft überraschend. Die Er-
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