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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der Nationalismus

l
e russische Monatsschrift "Der europäische Bote" brachte vor
einiger Zeit einen Aufsatz von Slonimski: "Der Nationalismus
in der Politik," der es verdient, anch deutschen Lesern zugänglich
gemacht zu werden. Der Gedankengang Slonimskis ist folgender.
Zu Beginn unsers Jahrhunderts hatte das nationale Prinzip
den praktischen Zweck der Befreiung der Völker von äußerm Druck; es war
ein volkstümliches und freiheitliches. In den letzten vierzig Jahren hat jedoch die
nationale Idee eine große Umwandlung erfahren: ans einer vom Volke getragenen
wurde sie eine staatliche, aus einer revolutionären eine konservative nud sogar
reaktionäre. Die Bewegung, die von Carbonari und Tugeudbuudeu geleitet
wurde, ging fast überall in die Hände militärisch-büreaukratischer Lenker über
und vollzog sich endlich unter angestrengter Mitwirkung der äußern Staats¬
gewalt, gegen die sie anscheinend zu Anfang gerichtet gewesen war. Die
nationalen Bestrebungen bemächtigten sich nicht des Staates, sondern der
Staat benutzte vielmehr sie und kvufiszirte sie gleichsam für seine Zwecke, wie
er jetzt ähnlich bestrebt ist, sich der sozialistischen Bewegung zu bemächtigen
und sie zu seinem Nutzen unter der Fahne des Staatssozialismus zu ver¬
wenden. Zugleich änderte sich von Grund aus die innere Bedeutung des
Nationalismus.

Der volkstümliche Rationalismus enthielt zwei wesentliche Grundgedanken:
erstens die Forderung der Freiheit und Unabhängigkeit von fremder Herrschaft,
zweitens die Forderung, jedes Volkstum unter der Gewalt eiuer selbständigen
nationalen Regierung zu einigelt. Was aber ist das gegenwärtig in der Politik der
großen europäische" Mächte herrschende nationale Prinzip? Es ist vor allem das
Prinzip kriegerischer Macht und Kraft, das die Starken kräftigt und die Schwachen
schwächt, den Ehrgeiz der Regierenden nährt und das Leben der Völker durch


Gmizliotcii II, 1891 1b


Der Nationalismus

l
e russische Monatsschrift „Der europäische Bote" brachte vor
einiger Zeit einen Aufsatz von Slonimski: „Der Nationalismus
in der Politik," der es verdient, anch deutschen Lesern zugänglich
gemacht zu werden. Der Gedankengang Slonimskis ist folgender.
Zu Beginn unsers Jahrhunderts hatte das nationale Prinzip
den praktischen Zweck der Befreiung der Völker von äußerm Druck; es war
ein volkstümliches und freiheitliches. In den letzten vierzig Jahren hat jedoch die
nationale Idee eine große Umwandlung erfahren: ans einer vom Volke getragenen
wurde sie eine staatliche, aus einer revolutionären eine konservative nud sogar
reaktionäre. Die Bewegung, die von Carbonari und Tugeudbuudeu geleitet
wurde, ging fast überall in die Hände militärisch-büreaukratischer Lenker über
und vollzog sich endlich unter angestrengter Mitwirkung der äußern Staats¬
gewalt, gegen die sie anscheinend zu Anfang gerichtet gewesen war. Die
nationalen Bestrebungen bemächtigten sich nicht des Staates, sondern der
Staat benutzte vielmehr sie und kvufiszirte sie gleichsam für seine Zwecke, wie
er jetzt ähnlich bestrebt ist, sich der sozialistischen Bewegung zu bemächtigen
und sie zu seinem Nutzen unter der Fahne des Staatssozialismus zu ver¬
wenden. Zugleich änderte sich von Grund aus die innere Bedeutung des
Nationalismus.

Der volkstümliche Rationalismus enthielt zwei wesentliche Grundgedanken:
erstens die Forderung der Freiheit und Unabhängigkeit von fremder Herrschaft,
zweitens die Forderung, jedes Volkstum unter der Gewalt eiuer selbständigen
nationalen Regierung zu einigelt. Was aber ist das gegenwärtig in der Politik der
großen europäische» Mächte herrschende nationale Prinzip? Es ist vor allem das
Prinzip kriegerischer Macht und Kraft, das die Starken kräftigt und die Schwachen
schwächt, den Ehrgeiz der Regierenden nährt und das Leben der Völker durch


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[0117] [Abbildung] Der Nationalismus l e russische Monatsschrift „Der europäische Bote" brachte vor einiger Zeit einen Aufsatz von Slonimski: „Der Nationalismus in der Politik," der es verdient, anch deutschen Lesern zugänglich gemacht zu werden. Der Gedankengang Slonimskis ist folgender. Zu Beginn unsers Jahrhunderts hatte das nationale Prinzip den praktischen Zweck der Befreiung der Völker von äußerm Druck; es war ein volkstümliches und freiheitliches. In den letzten vierzig Jahren hat jedoch die nationale Idee eine große Umwandlung erfahren: ans einer vom Volke getragenen wurde sie eine staatliche, aus einer revolutionären eine konservative nud sogar reaktionäre. Die Bewegung, die von Carbonari und Tugeudbuudeu geleitet wurde, ging fast überall in die Hände militärisch-büreaukratischer Lenker über und vollzog sich endlich unter angestrengter Mitwirkung der äußern Staats¬ gewalt, gegen die sie anscheinend zu Anfang gerichtet gewesen war. Die nationalen Bestrebungen bemächtigten sich nicht des Staates, sondern der Staat benutzte vielmehr sie und kvufiszirte sie gleichsam für seine Zwecke, wie er jetzt ähnlich bestrebt ist, sich der sozialistischen Bewegung zu bemächtigen und sie zu seinem Nutzen unter der Fahne des Staatssozialismus zu ver¬ wenden. Zugleich änderte sich von Grund aus die innere Bedeutung des Nationalismus. Der volkstümliche Rationalismus enthielt zwei wesentliche Grundgedanken: erstens die Forderung der Freiheit und Unabhängigkeit von fremder Herrschaft, zweitens die Forderung, jedes Volkstum unter der Gewalt eiuer selbständigen nationalen Regierung zu einigelt. Was aber ist das gegenwärtig in der Politik der großen europäische» Mächte herrschende nationale Prinzip? Es ist vor allem das Prinzip kriegerischer Macht und Kraft, das die Starken kräftigt und die Schwachen schwächt, den Ehrgeiz der Regierenden nährt und das Leben der Völker durch Gmizliotcii II, 1891 1b

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/117>, abgerufen am 24.07.2024.