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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

ist mit dem alten christlichen Glauben in einer oder der andern der hergebrachten
Formen vollkommen zufrieden; und bei denen, die überhaupt von Religion
nichts wissen wollen, verdienen sich die Religions- und Kirchengründer erst
recht keinen Dank, Dagegen entspricht jedes neue philosophische System immerhin
einem Bedürfnis, wenn auch nur weniger Schüler des Meisters, die darin
Ersatz finden für den Verlornen Kirchenglauben.

Bis heute ist keine einzige der alten Religionen untergegangen. Von der
griechischen bestehen beide Elemente gesondert fort: der Kultus vou Schutz¬
göttern, die als höhere und vollkommnere Menschen gedacht werden, in der
Heiligenverehrung der griechischen und der römisch-katholischen Kirche, der
Schöuheits- und Jdeenkultus in den humanistischen Kreisen aller europäischen
Völker. Der altrömische Götterdienst war nur ein zu Staatszwecken geordnetes
Zeremonienwesen und ist als Religion nicht zu rechnen.

An den Religionen wenigstens bewährt sich also das berühmte Gesetz
Hegels nicht, wonach jedes "Prinzip" seinen Gegensatz in sich trägt, der es
in dem Augenblicke auflöst und überwältigt, wo es triumphirt. Vielmehr wird
das Gebiet der alten Religionen durch neu entstehende eingeschränkt, ohne daß
sie selbst sich auflösen. Auch ist es nicht immer gerade ihr Gegensatz, der die
neue religiöse Idee hervortreibt, sondern ein Bedürfnis, das sie nicht zu be¬
friedigen vermögen, entweder ein neu entstandenes, wie das der nordischen
Völker Europas, deren durch den Humanismus aufgeklärte Verständigkeit an
dem teilweise in kindisches Zeremonienwesen ausgearteten Kultus kein Genüge
mehr faud, und deren Ehrlichkeit an dem Widerspruch zwischen der kirchlichen
Sittenlehre und den wirklichen Sitten Anstoß nahm, teils ein altes, das vorüber¬
gehend zurückgedrängt worden war, wie das der Semiten, die von dem ihnen
nicht zusagenden Christentume zur Lehre Muhammeds abfielen, die nur ein
verschlechtertes Judentum ist. Eben diese Verschlechterung verschaffte ihr eine
Ausbreitung, deren sich das Judentum niemals erfreut hatte; die erhabne
Sprache des Jesajn ist keine Speise für die Masse. Für diese paßt ein so
einfältiges Buch von niedrer Gesinnung wie der Koran weit besser; haben sich
doch anch die Juden später im Talmud ein Religionsbuch geschaffen, das dem
Denken und Empfinden gewöhnlicher Menschen mehr zusagt.

Gleich den Religionen führen die Völker ein zähes Leben. Verschwunden
ist von den größern noch keines, wenn auch in Europa der Charakter einiger
durch starke Beimischung fremden Blutes verändert worden ist. Am auffälligsten
ist die Veränderung bei den Bewohnern Mittelitaliens; das harte Metall des
alten Römertums ist weich und biegsam geworden, und nur die altrömische
Staatskunst lebt noch im Vatikan fort. Wie unausrottbar das keltische Element
in den Franzosen wurzelt, und wie es aller reichen und reifen Erfahrung, aller
Verständigkeit und mühsam erworbnen Selbstbeherrschung zum Trotz immer
wieder durchschlägt, hat die Welt zu ihrer Erheiterung erst kürzlich wieder erlebt.


Geschichtsphilosophische Gedanken

ist mit dem alten christlichen Glauben in einer oder der andern der hergebrachten
Formen vollkommen zufrieden; und bei denen, die überhaupt von Religion
nichts wissen wollen, verdienen sich die Religions- und Kirchengründer erst
recht keinen Dank, Dagegen entspricht jedes neue philosophische System immerhin
einem Bedürfnis, wenn auch nur weniger Schüler des Meisters, die darin
Ersatz finden für den Verlornen Kirchenglauben.

Bis heute ist keine einzige der alten Religionen untergegangen. Von der
griechischen bestehen beide Elemente gesondert fort: der Kultus vou Schutz¬
göttern, die als höhere und vollkommnere Menschen gedacht werden, in der
Heiligenverehrung der griechischen und der römisch-katholischen Kirche, der
Schöuheits- und Jdeenkultus in den humanistischen Kreisen aller europäischen
Völker. Der altrömische Götterdienst war nur ein zu Staatszwecken geordnetes
Zeremonienwesen und ist als Religion nicht zu rechnen.

An den Religionen wenigstens bewährt sich also das berühmte Gesetz
Hegels nicht, wonach jedes „Prinzip" seinen Gegensatz in sich trägt, der es
in dem Augenblicke auflöst und überwältigt, wo es triumphirt. Vielmehr wird
das Gebiet der alten Religionen durch neu entstehende eingeschränkt, ohne daß
sie selbst sich auflösen. Auch ist es nicht immer gerade ihr Gegensatz, der die
neue religiöse Idee hervortreibt, sondern ein Bedürfnis, das sie nicht zu be¬
friedigen vermögen, entweder ein neu entstandenes, wie das der nordischen
Völker Europas, deren durch den Humanismus aufgeklärte Verständigkeit an
dem teilweise in kindisches Zeremonienwesen ausgearteten Kultus kein Genüge
mehr faud, und deren Ehrlichkeit an dem Widerspruch zwischen der kirchlichen
Sittenlehre und den wirklichen Sitten Anstoß nahm, teils ein altes, das vorüber¬
gehend zurückgedrängt worden war, wie das der Semiten, die von dem ihnen
nicht zusagenden Christentume zur Lehre Muhammeds abfielen, die nur ein
verschlechtertes Judentum ist. Eben diese Verschlechterung verschaffte ihr eine
Ausbreitung, deren sich das Judentum niemals erfreut hatte; die erhabne
Sprache des Jesajn ist keine Speise für die Masse. Für diese paßt ein so
einfältiges Buch von niedrer Gesinnung wie der Koran weit besser; haben sich
doch anch die Juden später im Talmud ein Religionsbuch geschaffen, das dem
Denken und Empfinden gewöhnlicher Menschen mehr zusagt.

Gleich den Religionen führen die Völker ein zähes Leben. Verschwunden
ist von den größern noch keines, wenn auch in Europa der Charakter einiger
durch starke Beimischung fremden Blutes verändert worden ist. Am auffälligsten
ist die Veränderung bei den Bewohnern Mittelitaliens; das harte Metall des
alten Römertums ist weich und biegsam geworden, und nur die altrömische
Staatskunst lebt noch im Vatikan fort. Wie unausrottbar das keltische Element
in den Franzosen wurzelt, und wie es aller reichen und reifen Erfahrung, aller
Verständigkeit und mühsam erworbnen Selbstbeherrschung zum Trotz immer
wieder durchschlägt, hat die Welt zu ihrer Erheiterung erst kürzlich wieder erlebt.


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[0602] Geschichtsphilosophische Gedanken ist mit dem alten christlichen Glauben in einer oder der andern der hergebrachten Formen vollkommen zufrieden; und bei denen, die überhaupt von Religion nichts wissen wollen, verdienen sich die Religions- und Kirchengründer erst recht keinen Dank, Dagegen entspricht jedes neue philosophische System immerhin einem Bedürfnis, wenn auch nur weniger Schüler des Meisters, die darin Ersatz finden für den Verlornen Kirchenglauben. Bis heute ist keine einzige der alten Religionen untergegangen. Von der griechischen bestehen beide Elemente gesondert fort: der Kultus vou Schutz¬ göttern, die als höhere und vollkommnere Menschen gedacht werden, in der Heiligenverehrung der griechischen und der römisch-katholischen Kirche, der Schöuheits- und Jdeenkultus in den humanistischen Kreisen aller europäischen Völker. Der altrömische Götterdienst war nur ein zu Staatszwecken geordnetes Zeremonienwesen und ist als Religion nicht zu rechnen. An den Religionen wenigstens bewährt sich also das berühmte Gesetz Hegels nicht, wonach jedes „Prinzip" seinen Gegensatz in sich trägt, der es in dem Augenblicke auflöst und überwältigt, wo es triumphirt. Vielmehr wird das Gebiet der alten Religionen durch neu entstehende eingeschränkt, ohne daß sie selbst sich auflösen. Auch ist es nicht immer gerade ihr Gegensatz, der die neue religiöse Idee hervortreibt, sondern ein Bedürfnis, das sie nicht zu be¬ friedigen vermögen, entweder ein neu entstandenes, wie das der nordischen Völker Europas, deren durch den Humanismus aufgeklärte Verständigkeit an dem teilweise in kindisches Zeremonienwesen ausgearteten Kultus kein Genüge mehr faud, und deren Ehrlichkeit an dem Widerspruch zwischen der kirchlichen Sittenlehre und den wirklichen Sitten Anstoß nahm, teils ein altes, das vorüber¬ gehend zurückgedrängt worden war, wie das der Semiten, die von dem ihnen nicht zusagenden Christentume zur Lehre Muhammeds abfielen, die nur ein verschlechtertes Judentum ist. Eben diese Verschlechterung verschaffte ihr eine Ausbreitung, deren sich das Judentum niemals erfreut hatte; die erhabne Sprache des Jesajn ist keine Speise für die Masse. Für diese paßt ein so einfältiges Buch von niedrer Gesinnung wie der Koran weit besser; haben sich doch anch die Juden später im Talmud ein Religionsbuch geschaffen, das dem Denken und Empfinden gewöhnlicher Menschen mehr zusagt. Gleich den Religionen führen die Völker ein zähes Leben. Verschwunden ist von den größern noch keines, wenn auch in Europa der Charakter einiger durch starke Beimischung fremden Blutes verändert worden ist. Am auffälligsten ist die Veränderung bei den Bewohnern Mittelitaliens; das harte Metall des alten Römertums ist weich und biegsam geworden, und nur die altrömische Staatskunst lebt noch im Vatikan fort. Wie unausrottbar das keltische Element in den Franzosen wurzelt, und wie es aller reichen und reifen Erfahrung, aller Verständigkeit und mühsam erworbnen Selbstbeherrschung zum Trotz immer wieder durchschlägt, hat die Welt zu ihrer Erheiterung erst kürzlich wieder erlebt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/602>, abgerufen am 23.07.2024.