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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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gläubigen zu denken, würden sie heute schon froh sein, wenn sie das im ersten
Feuer zusammeueroberte Gebiet zu behaupten vermöchten.

Ähnlich ist es dein Protestantismus ergangen. Der Gedanke einer Er¬
neuerung der ganzen Kirche mußte schon in den ersten Jahrzehnten aufgegeben
werden. Der gewaltige Geisterkampf der Jahre 1517--1520, der den Völkern
völlige Freiheit des individuellen Lebeus und Strebens zu verheißen schien,
schrumpfte zusammen zu einem widerlichen Gezänk der Fürsten um das.jus
rvtorirmmli, d. h. um das Recht, die Gewissen ihrer Unterthanen im Interesse
des Staates zu beherrschen, und zu einem nicht minder widerlichen Gezänk
um einzelne Dogmen; der Besitzstand der großen christlichen Konfessionen aber
die sich damals von einander absonderten, hat sich seit dreihundert Jahren
nicht wesentlich geändert; was der Protestantismus seitdem gewonnen hat,
das verdankt er nicht der Macht des belehrenden Wortes, sondern der größer"
Fruchtbarkeit der germanischen und der angelsächsischen Nasse.

Zur Entschädigung für diese Enttäuschung kann er das Schauspiel ge¬
nießen, wie die Philosophien, die ihn in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts
zu verschlingen dachten, einander gegenseitig aufzehren. Die "Selbstzersetzuug
des Christentums" ist eine Illusion des Mannes, der sich vergebens bemüht
hat, seinen Zeitgenossen die Genüsse, denen sie nachjagen, als Illusionen zu
verekeln. Was sich selbst zersetzt hat, das ist die spekulative Dogmatik und
die Bibelkritik, aber das Christentum ist sowohl in der protestantischen wie in
der katholischen Form heute noch so lebendig wie je. Wenn die Protestantischen
Staatskirchen beinahe allen Einfluß auf das Volk eingebüßt haben und dieses
die Befriedigung seiner religiösen Bedürfnisse bei den Sekten sucht, so ist daran
weder die orthodoxe noch die liberale Theologie schuld, sondern so manches
andre, wovon Nur später einmal zu sprechen gedenken. Es ist richtig, daß sich
nicht allein die Mehrzahl der Gebildeten, sondern anch ein Teil des Volkes
vom Christentum abgewandt hat, aber das ist durchaus keine neue Erscheinung;
im Mittelalter herrschten oft weithin Gleichgiltigkeit und Haß gegen die Kirche,
und auch Luther war von dem Treiben sehr vieler seiner Anhänger ganz und
gar nicht erbaut. Lebhaftes religiöses Bedürfnis findet sich in alleil Zeit¬
altern nur bei einer Minderzahl; die Mehrzahl ist weltlich gesinnt und macht
je nach Umständen das Kirchenwesen äußerlich mit oder wendet sich geradezu
von ihm ab. Hegel, Schopenhauer, die Materialisten, die Darwinianer, die
nach einander den allein wahren Glauben oder die zur Verdrängung des
Glaubens berufene Erkenntnis gefunden zu haben sich einbildeten, gehören alle¬
samt schon der Geschichte an. Jedes dieser Systeme ist das Glaubensbekenntnis
eines Kirchleins geworden, das neben den alten Kirchen eine sehr bescheidne
Rolle spielt. Solche Herren, die sich für verpflichtet erachten, die Religion
der Zukunft zusammenzubrauen, verwechseln ihr und ihrer verhältnismäßig
nicht sehr zahlreiche Gesinnungsgenossen Bedürfnis mit dem des Volkes; dieses


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gläubigen zu denken, würden sie heute schon froh sein, wenn sie das im ersten
Feuer zusammeueroberte Gebiet zu behaupten vermöchten.

Ähnlich ist es dein Protestantismus ergangen. Der Gedanke einer Er¬
neuerung der ganzen Kirche mußte schon in den ersten Jahrzehnten aufgegeben
werden. Der gewaltige Geisterkampf der Jahre 1517—1520, der den Völkern
völlige Freiheit des individuellen Lebeus und Strebens zu verheißen schien,
schrumpfte zusammen zu einem widerlichen Gezänk der Fürsten um das.jus
rvtorirmmli, d. h. um das Recht, die Gewissen ihrer Unterthanen im Interesse
des Staates zu beherrschen, und zu einem nicht minder widerlichen Gezänk
um einzelne Dogmen; der Besitzstand der großen christlichen Konfessionen aber
die sich damals von einander absonderten, hat sich seit dreihundert Jahren
nicht wesentlich geändert; was der Protestantismus seitdem gewonnen hat,
das verdankt er nicht der Macht des belehrenden Wortes, sondern der größer»
Fruchtbarkeit der germanischen und der angelsächsischen Nasse.

Zur Entschädigung für diese Enttäuschung kann er das Schauspiel ge¬
nießen, wie die Philosophien, die ihn in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts
zu verschlingen dachten, einander gegenseitig aufzehren. Die „Selbstzersetzuug
des Christentums" ist eine Illusion des Mannes, der sich vergebens bemüht
hat, seinen Zeitgenossen die Genüsse, denen sie nachjagen, als Illusionen zu
verekeln. Was sich selbst zersetzt hat, das ist die spekulative Dogmatik und
die Bibelkritik, aber das Christentum ist sowohl in der protestantischen wie in
der katholischen Form heute noch so lebendig wie je. Wenn die Protestantischen
Staatskirchen beinahe allen Einfluß auf das Volk eingebüßt haben und dieses
die Befriedigung seiner religiösen Bedürfnisse bei den Sekten sucht, so ist daran
weder die orthodoxe noch die liberale Theologie schuld, sondern so manches
andre, wovon Nur später einmal zu sprechen gedenken. Es ist richtig, daß sich
nicht allein die Mehrzahl der Gebildeten, sondern anch ein Teil des Volkes
vom Christentum abgewandt hat, aber das ist durchaus keine neue Erscheinung;
im Mittelalter herrschten oft weithin Gleichgiltigkeit und Haß gegen die Kirche,
und auch Luther war von dem Treiben sehr vieler seiner Anhänger ganz und
gar nicht erbaut. Lebhaftes religiöses Bedürfnis findet sich in alleil Zeit¬
altern nur bei einer Minderzahl; die Mehrzahl ist weltlich gesinnt und macht
je nach Umständen das Kirchenwesen äußerlich mit oder wendet sich geradezu
von ihm ab. Hegel, Schopenhauer, die Materialisten, die Darwinianer, die
nach einander den allein wahren Glauben oder die zur Verdrängung des
Glaubens berufene Erkenntnis gefunden zu haben sich einbildeten, gehören alle¬
samt schon der Geschichte an. Jedes dieser Systeme ist das Glaubensbekenntnis
eines Kirchleins geworden, das neben den alten Kirchen eine sehr bescheidne
Rolle spielt. Solche Herren, die sich für verpflichtet erachten, die Religion
der Zukunft zusammenzubrauen, verwechseln ihr und ihrer verhältnismäßig
nicht sehr zahlreiche Gesinnungsgenossen Bedürfnis mit dem des Volkes; dieses


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/601>, abgerufen am 23.07.2024.