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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

Die Iren mit einem dreihundertjährigeil Ausrottungssystem aus Irland zu
verdrängen, ist den Engländern zum Teil, die Lustigkeit des Völkchens durch
Elend zu vernichten, gnr nicht gelungen. (Ich sage die Lustigkeit, nicht die
Liederlichkeit, weil diese ihnen erst künstlich angezüchtet worden ist. Zu einer
Zeit, wo ihnen die Erwerbung und das Behaupten von Eigentum schon schwer
gemacht wurde, im Jahre 1589, stellt ihnen ein englischer Unternehmer noch
das Zeugnis aus, daß sie fleißig und wirtschaftlich seien.) Und wie viel
machen dein österreichischen Großstaate jene kleinen Völkerreste zu schaffen, von
denen man bis in die Mitte unsers Jahrhunderts glaubte, der mächtige deutsche
Stamm habe sie längst aufgesogen und verdaut!

Weit geringere Lebenskraft haben, als mehr künstliche und zufällige Bil¬
dungen, die Staaten. Doch vollziehen sich ihre Wandlungen nicht nach einem
Schema, aus dem das Hinstreben nach einem bestimmten Ziele zu erkennen
wäre, was der Fall sein würde, wenn die Staaten alle ganz klein begonnen
hätten, und in allmählicher Vergrößerung auf die Weltmonarchie lossteuerten,
oder wenn sich alle absoluten Monarchien mit der Zeit in demokratische Re¬
publiken verwandelten. Vielmehr lösen diese Formen einander in stetem Wechsel
ab. Am Euphrat gründeten Eroberer eine Reihe von Reichen, von deuen
jedes nach nicht allzu langem Bestände wieder zerfiel. Sie wurden alle von
dem Perserreiche verschlungen, das wenig über zweihundert Jahre dauerte.
Das darauf gepfropfte Reich des großen Mazedoniers zerfiel mit dem Tode
seines Gründers. Das ungeheure, so viele verschiedne Kulturvölker umfassende
Römerreich vermochte sich dreihundert Jahre ungeteilt zu erhalten. Nach
der Teilung drängten sich in seinem Schoße kurzlebige Neugründungen, die
zuerst das westliche und erst tausend Jahre später das östliche Teilreich voll¬
ständig vernichteten. Nach der kurzen Herrlichkeit des karolingischen Großreichs
zersetzte der Feudalismus die Teilreiche. In Deutschland feierte die Klein¬
staaterei den Triumph höchster Lächerlichkeit erst zu einer Zeit, wo in Frank¬
reich die Rückbildung längst vollendet und der Großstaat fertig war. In unsern
Tagen haben Italien und Deutschland den westlichen Nachbar eingeholt und
überholt. Irgend welche Zeichen, die auf eine nochmalige Rückbildung zur
Kleinstaaterei hinwiesen, sind in den großen westeuropäischen Nationalstaaten
zur Zeit nicht zu spüren, obwohl der Süden und der Norden Italiens, die
räumlich so weit von einander getrennt sind, nicht zur besten Harmoniren:
überhaupt ist eine Wiederkehr des Miniaturstaatentnms in der Zeit des Dampf¬
wagens, des elektrischen Telegraphen und der Gnßstahlgeschütze nicht denkbar;
Städchen wie die renßischeu haben ihre anachronistische Fortdauer uur der
zarten Gewissenhaftigkeit des bundestreueu Hohenzollernhcmses zu verdanken.
Dagegen ist der Zerfall des osmanischen Reiches in Kleinstaaten gewiß und
schon halb beendigt, und Rußland dürfte über kurz oder lang einem ähnlichen
Schicksal verfallen. Jenseits des Ozeans hat sich das Kaiserinn: Brasilien


Geschichtsphilosophische Gedanken

Die Iren mit einem dreihundertjährigeil Ausrottungssystem aus Irland zu
verdrängen, ist den Engländern zum Teil, die Lustigkeit des Völkchens durch
Elend zu vernichten, gnr nicht gelungen. (Ich sage die Lustigkeit, nicht die
Liederlichkeit, weil diese ihnen erst künstlich angezüchtet worden ist. Zu einer
Zeit, wo ihnen die Erwerbung und das Behaupten von Eigentum schon schwer
gemacht wurde, im Jahre 1589, stellt ihnen ein englischer Unternehmer noch
das Zeugnis aus, daß sie fleißig und wirtschaftlich seien.) Und wie viel
machen dein österreichischen Großstaate jene kleinen Völkerreste zu schaffen, von
denen man bis in die Mitte unsers Jahrhunderts glaubte, der mächtige deutsche
Stamm habe sie längst aufgesogen und verdaut!

Weit geringere Lebenskraft haben, als mehr künstliche und zufällige Bil¬
dungen, die Staaten. Doch vollziehen sich ihre Wandlungen nicht nach einem
Schema, aus dem das Hinstreben nach einem bestimmten Ziele zu erkennen
wäre, was der Fall sein würde, wenn die Staaten alle ganz klein begonnen
hätten, und in allmählicher Vergrößerung auf die Weltmonarchie lossteuerten,
oder wenn sich alle absoluten Monarchien mit der Zeit in demokratische Re¬
publiken verwandelten. Vielmehr lösen diese Formen einander in stetem Wechsel
ab. Am Euphrat gründeten Eroberer eine Reihe von Reichen, von deuen
jedes nach nicht allzu langem Bestände wieder zerfiel. Sie wurden alle von
dem Perserreiche verschlungen, das wenig über zweihundert Jahre dauerte.
Das darauf gepfropfte Reich des großen Mazedoniers zerfiel mit dem Tode
seines Gründers. Das ungeheure, so viele verschiedne Kulturvölker umfassende
Römerreich vermochte sich dreihundert Jahre ungeteilt zu erhalten. Nach
der Teilung drängten sich in seinem Schoße kurzlebige Neugründungen, die
zuerst das westliche und erst tausend Jahre später das östliche Teilreich voll¬
ständig vernichteten. Nach der kurzen Herrlichkeit des karolingischen Großreichs
zersetzte der Feudalismus die Teilreiche. In Deutschland feierte die Klein¬
staaterei den Triumph höchster Lächerlichkeit erst zu einer Zeit, wo in Frank¬
reich die Rückbildung längst vollendet und der Großstaat fertig war. In unsern
Tagen haben Italien und Deutschland den westlichen Nachbar eingeholt und
überholt. Irgend welche Zeichen, die auf eine nochmalige Rückbildung zur
Kleinstaaterei hinwiesen, sind in den großen westeuropäischen Nationalstaaten
zur Zeit nicht zu spüren, obwohl der Süden und der Norden Italiens, die
räumlich so weit von einander getrennt sind, nicht zur besten Harmoniren:
überhaupt ist eine Wiederkehr des Miniaturstaatentnms in der Zeit des Dampf¬
wagens, des elektrischen Telegraphen und der Gnßstahlgeschütze nicht denkbar;
Städchen wie die renßischeu haben ihre anachronistische Fortdauer uur der
zarten Gewissenhaftigkeit des bundestreueu Hohenzollernhcmses zu verdanken.
Dagegen ist der Zerfall des osmanischen Reiches in Kleinstaaten gewiß und
schon halb beendigt, und Rußland dürfte über kurz oder lang einem ähnlichen
Schicksal verfallen. Jenseits des Ozeans hat sich das Kaiserinn: Brasilien


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[0603] Geschichtsphilosophische Gedanken Die Iren mit einem dreihundertjährigeil Ausrottungssystem aus Irland zu verdrängen, ist den Engländern zum Teil, die Lustigkeit des Völkchens durch Elend zu vernichten, gnr nicht gelungen. (Ich sage die Lustigkeit, nicht die Liederlichkeit, weil diese ihnen erst künstlich angezüchtet worden ist. Zu einer Zeit, wo ihnen die Erwerbung und das Behaupten von Eigentum schon schwer gemacht wurde, im Jahre 1589, stellt ihnen ein englischer Unternehmer noch das Zeugnis aus, daß sie fleißig und wirtschaftlich seien.) Und wie viel machen dein österreichischen Großstaate jene kleinen Völkerreste zu schaffen, von denen man bis in die Mitte unsers Jahrhunderts glaubte, der mächtige deutsche Stamm habe sie längst aufgesogen und verdaut! Weit geringere Lebenskraft haben, als mehr künstliche und zufällige Bil¬ dungen, die Staaten. Doch vollziehen sich ihre Wandlungen nicht nach einem Schema, aus dem das Hinstreben nach einem bestimmten Ziele zu erkennen wäre, was der Fall sein würde, wenn die Staaten alle ganz klein begonnen hätten, und in allmählicher Vergrößerung auf die Weltmonarchie lossteuerten, oder wenn sich alle absoluten Monarchien mit der Zeit in demokratische Re¬ publiken verwandelten. Vielmehr lösen diese Formen einander in stetem Wechsel ab. Am Euphrat gründeten Eroberer eine Reihe von Reichen, von deuen jedes nach nicht allzu langem Bestände wieder zerfiel. Sie wurden alle von dem Perserreiche verschlungen, das wenig über zweihundert Jahre dauerte. Das darauf gepfropfte Reich des großen Mazedoniers zerfiel mit dem Tode seines Gründers. Das ungeheure, so viele verschiedne Kulturvölker umfassende Römerreich vermochte sich dreihundert Jahre ungeteilt zu erhalten. Nach der Teilung drängten sich in seinem Schoße kurzlebige Neugründungen, die zuerst das westliche und erst tausend Jahre später das östliche Teilreich voll¬ ständig vernichteten. Nach der kurzen Herrlichkeit des karolingischen Großreichs zersetzte der Feudalismus die Teilreiche. In Deutschland feierte die Klein¬ staaterei den Triumph höchster Lächerlichkeit erst zu einer Zeit, wo in Frank¬ reich die Rückbildung längst vollendet und der Großstaat fertig war. In unsern Tagen haben Italien und Deutschland den westlichen Nachbar eingeholt und überholt. Irgend welche Zeichen, die auf eine nochmalige Rückbildung zur Kleinstaaterei hinwiesen, sind in den großen westeuropäischen Nationalstaaten zur Zeit nicht zu spüren, obwohl der Süden und der Norden Italiens, die räumlich so weit von einander getrennt sind, nicht zur besten Harmoniren: überhaupt ist eine Wiederkehr des Miniaturstaatentnms in der Zeit des Dampf¬ wagens, des elektrischen Telegraphen und der Gnßstahlgeschütze nicht denkbar; Städchen wie die renßischeu haben ihre anachronistische Fortdauer uur der zarten Gewissenhaftigkeit des bundestreueu Hohenzollernhcmses zu verdanken. Dagegen ist der Zerfall des osmanischen Reiches in Kleinstaaten gewiß und schon halb beendigt, und Rußland dürfte über kurz oder lang einem ähnlichen Schicksal verfallen. Jenseits des Ozeans hat sich das Kaiserinn: Brasilien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/603>, abgerufen am 25.08.2024.