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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

Anhänger durchschnittlich einmal in jeden^ Jahrzehnt an ihm verzweifeln, würde
die Welt stetig verengen, während der wahre Fortschritt sie stetig erweitert
und bereichert. Er sieht in der Menschheit ungefähr ebenso aus wie in der
Natur. Nehmen wir an, daß sich die höhern Pflanzen und Tiere auf dem
vou Darwin beschriebnen Wege aus den niedern entwickelt hätten, so sind doch
diese uicht verschwunden, nachdem jene fertig waren, sondern sie leben weiter
und bedecken die Oberfläche der Erde mit einer bunten Mannigfaltigkeit von
Gestalten. (Ob die untergegangnen Pflanzen- und Tiergeschlechter die Stamm-
eltern der jetzt lebenden gewesen sind, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls
gehörten sie einer von der gegenwärtigen ganz verschiednen Lebensperiode
unsers Planeten an, in der der Mensch noch nicht möglich war.) Und stirbt
die eine oder die andre Tierart aus, oder wird sie vom Menschen ausgerottet,
so spalten sich dafür die fortbestehenden Gattungen in immer zahlreichere
Spielarten. Ebenso wird auch die Menschenwelt immer mannigfaltiger. Der
wachsende Reichtum an Gedanken, Kenntnissen, Hilfsmitteln, Wechselbeziehungen
erzeugt das Bedürfnis neuer Einrichtungen, daneben aber bleiben die alten
Ansichten, Lebensweisen und Zustände, denen die alten Einrichtungen genügen,
bestehen. Noch hat der Elektrotechniker den Hirten nicht verdrängt, der sein
Gewerbe nicht viel anders betreibt als vormals die Knechte der Erzväter, und
keine noch so konstitutionelle Verfassung kann es andern, daß Knechte nötig
sind, und daß sich immer wieder "Staatsbürger" finden, die, zum Dienen
geboren, sich vortrefflich für Knechtsdienstc eignen. In jedes Geschlecht treten
außerdem neue originale Geister ein, die für ihre Ideen Anhänger gewinnen,
ohne daß sich dadurch die Anhänger des Alten in ihrem Glauben, ihren
Anhänglichkeiten und Lebensgewohnheiten stören ließen.

Die Erwartung der Christenheit, daß die Fülle der Heiden nud darnach
auch die Judenschaft in die Kirche eingehen werde, hat sich uicht erfüllt; im
siebenten Jahrhundert verlor sogar die Kirche deu ganzen Orient, der sich in
ihrem Schoße nie recht heimisch gefühlt hatte, an den Islam, und seitdem hat
ihr Besitzstand keine wesentliche Veränderung mehr erfahren. (Die amerikanischen
Christen sind ja nnr Nachkommen ausgewanderter Europäer.) Die Stiftung
Muhammeds war aus zwei Ursachen notwendig. Erstens vermag sich die
orientalische Welt weder in die Anerkennung der persönlichen Freiheit jedes
einzelnen Menschen noch in das christliche Eherecht zu finden. Zweitens
mußten die von: Christentumc grundsätzlich ausgehöhlten Speisegesetze der
semitischen Welt wenigstens mit Beziehung auf die Getränke wieder hergestellt
werden, wenn die Völker des Orients nicht bei näherer Berührung mit den
unternehmungs- und erwerbslustigen Nordeuropäern durch den Alkohol aus¬
gerottet werden sollten. Aber der schwärmerische Hochmut der Anhänger des
Propheten wurde noch empfindlicher gedemütigt als der Glaubenseifer des
Christen; anstatt an die Unterjochung der Welt und die Ausrottung der Un-


Geschichtsphilosophische Gedanken

Anhänger durchschnittlich einmal in jeden^ Jahrzehnt an ihm verzweifeln, würde
die Welt stetig verengen, während der wahre Fortschritt sie stetig erweitert
und bereichert. Er sieht in der Menschheit ungefähr ebenso aus wie in der
Natur. Nehmen wir an, daß sich die höhern Pflanzen und Tiere auf dem
vou Darwin beschriebnen Wege aus den niedern entwickelt hätten, so sind doch
diese uicht verschwunden, nachdem jene fertig waren, sondern sie leben weiter
und bedecken die Oberfläche der Erde mit einer bunten Mannigfaltigkeit von
Gestalten. (Ob die untergegangnen Pflanzen- und Tiergeschlechter die Stamm-
eltern der jetzt lebenden gewesen sind, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls
gehörten sie einer von der gegenwärtigen ganz verschiednen Lebensperiode
unsers Planeten an, in der der Mensch noch nicht möglich war.) Und stirbt
die eine oder die andre Tierart aus, oder wird sie vom Menschen ausgerottet,
so spalten sich dafür die fortbestehenden Gattungen in immer zahlreichere
Spielarten. Ebenso wird auch die Menschenwelt immer mannigfaltiger. Der
wachsende Reichtum an Gedanken, Kenntnissen, Hilfsmitteln, Wechselbeziehungen
erzeugt das Bedürfnis neuer Einrichtungen, daneben aber bleiben die alten
Ansichten, Lebensweisen und Zustände, denen die alten Einrichtungen genügen,
bestehen. Noch hat der Elektrotechniker den Hirten nicht verdrängt, der sein
Gewerbe nicht viel anders betreibt als vormals die Knechte der Erzväter, und
keine noch so konstitutionelle Verfassung kann es andern, daß Knechte nötig
sind, und daß sich immer wieder „Staatsbürger" finden, die, zum Dienen
geboren, sich vortrefflich für Knechtsdienstc eignen. In jedes Geschlecht treten
außerdem neue originale Geister ein, die für ihre Ideen Anhänger gewinnen,
ohne daß sich dadurch die Anhänger des Alten in ihrem Glauben, ihren
Anhänglichkeiten und Lebensgewohnheiten stören ließen.

Die Erwartung der Christenheit, daß die Fülle der Heiden nud darnach
auch die Judenschaft in die Kirche eingehen werde, hat sich uicht erfüllt; im
siebenten Jahrhundert verlor sogar die Kirche deu ganzen Orient, der sich in
ihrem Schoße nie recht heimisch gefühlt hatte, an den Islam, und seitdem hat
ihr Besitzstand keine wesentliche Veränderung mehr erfahren. (Die amerikanischen
Christen sind ja nnr Nachkommen ausgewanderter Europäer.) Die Stiftung
Muhammeds war aus zwei Ursachen notwendig. Erstens vermag sich die
orientalische Welt weder in die Anerkennung der persönlichen Freiheit jedes
einzelnen Menschen noch in das christliche Eherecht zu finden. Zweitens
mußten die von: Christentumc grundsätzlich ausgehöhlten Speisegesetze der
semitischen Welt wenigstens mit Beziehung auf die Getränke wieder hergestellt
werden, wenn die Völker des Orients nicht bei näherer Berührung mit den
unternehmungs- und erwerbslustigen Nordeuropäern durch den Alkohol aus¬
gerottet werden sollten. Aber der schwärmerische Hochmut der Anhänger des
Propheten wurde noch empfindlicher gedemütigt als der Glaubenseifer des
Christen; anstatt an die Unterjochung der Welt und die Ausrottung der Un-


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[0600] Geschichtsphilosophische Gedanken Anhänger durchschnittlich einmal in jeden^ Jahrzehnt an ihm verzweifeln, würde die Welt stetig verengen, während der wahre Fortschritt sie stetig erweitert und bereichert. Er sieht in der Menschheit ungefähr ebenso aus wie in der Natur. Nehmen wir an, daß sich die höhern Pflanzen und Tiere auf dem vou Darwin beschriebnen Wege aus den niedern entwickelt hätten, so sind doch diese uicht verschwunden, nachdem jene fertig waren, sondern sie leben weiter und bedecken die Oberfläche der Erde mit einer bunten Mannigfaltigkeit von Gestalten. (Ob die untergegangnen Pflanzen- und Tiergeschlechter die Stamm- eltern der jetzt lebenden gewesen sind, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls gehörten sie einer von der gegenwärtigen ganz verschiednen Lebensperiode unsers Planeten an, in der der Mensch noch nicht möglich war.) Und stirbt die eine oder die andre Tierart aus, oder wird sie vom Menschen ausgerottet, so spalten sich dafür die fortbestehenden Gattungen in immer zahlreichere Spielarten. Ebenso wird auch die Menschenwelt immer mannigfaltiger. Der wachsende Reichtum an Gedanken, Kenntnissen, Hilfsmitteln, Wechselbeziehungen erzeugt das Bedürfnis neuer Einrichtungen, daneben aber bleiben die alten Ansichten, Lebensweisen und Zustände, denen die alten Einrichtungen genügen, bestehen. Noch hat der Elektrotechniker den Hirten nicht verdrängt, der sein Gewerbe nicht viel anders betreibt als vormals die Knechte der Erzväter, und keine noch so konstitutionelle Verfassung kann es andern, daß Knechte nötig sind, und daß sich immer wieder „Staatsbürger" finden, die, zum Dienen geboren, sich vortrefflich für Knechtsdienstc eignen. In jedes Geschlecht treten außerdem neue originale Geister ein, die für ihre Ideen Anhänger gewinnen, ohne daß sich dadurch die Anhänger des Alten in ihrem Glauben, ihren Anhänglichkeiten und Lebensgewohnheiten stören ließen. Die Erwartung der Christenheit, daß die Fülle der Heiden nud darnach auch die Judenschaft in die Kirche eingehen werde, hat sich uicht erfüllt; im siebenten Jahrhundert verlor sogar die Kirche deu ganzen Orient, der sich in ihrem Schoße nie recht heimisch gefühlt hatte, an den Islam, und seitdem hat ihr Besitzstand keine wesentliche Veränderung mehr erfahren. (Die amerikanischen Christen sind ja nnr Nachkommen ausgewanderter Europäer.) Die Stiftung Muhammeds war aus zwei Ursachen notwendig. Erstens vermag sich die orientalische Welt weder in die Anerkennung der persönlichen Freiheit jedes einzelnen Menschen noch in das christliche Eherecht zu finden. Zweitens mußten die von: Christentumc grundsätzlich ausgehöhlten Speisegesetze der semitischen Welt wenigstens mit Beziehung auf die Getränke wieder hergestellt werden, wenn die Völker des Orients nicht bei näherer Berührung mit den unternehmungs- und erwerbslustigen Nordeuropäern durch den Alkohol aus¬ gerottet werden sollten. Aber der schwärmerische Hochmut der Anhänger des Propheten wurde noch empfindlicher gedemütigt als der Glaubenseifer des Christen; anstatt an die Unterjochung der Welt und die Ausrottung der Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/600>, abgerufen am 23.07.2024.