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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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ist zum zweitenmal verheiratet, und zwar mit der achtzehnjährigen Ncigni,
der Titelheldin des Romans. Sie ist ans einem Berliner Konservatorium zur
Klaviervirtuosin ausgebildet worden und muß etwas Berückendes besitzen
-- worin das liegt, wird nicht gesagt --, denn Eduards Freund Thomas
Nendalen ist über Hals über Kops ans seiner Wohnung bei Knies aus¬
gezogen und hat sie Eduard abgetreten. Er schildert Ragni mit den wenig
schmeichelhaften Worten: "Dumm sieht sie aus, Gott verzeih mirs, dumm!
die Stirn könnte sie allenfalls retten, aber die verdeckt sie ganz mit ihren
Haaren!"

Nach einer breit ausgeführten Vorbereitung, wo Ragni nur immer weint,
mit dem Kopfe schüttelt, nickt oder davouhuscht, bis Kaltem in Schlafrock und
Pantoffeln -- das ist bezeichnend -- sie endlich im dunkeln Korridor faßt
und in sein Zimmer zieht, entschließt sie sich, den widerwärtigen Sören Kule
zu verlassen, und flieht zu einem Verwandten Eduards nach Amerika. So¬
bald Kaltem seine Zukunft gesichert sieht, holt er Ragni von dort zurück,
heiratet sie und läßt sich als Arzt in der Stadt nieder, wo Ole Tust als
eifriger Pfarrer und glücklicher Familienvater mit Josephine lebt. Mit Schrecken
und Entrüstung gewahren das die Pfarrersleute. Eduards Ehe mit Ragni
gilt ihnen für unsittlich und verwerflich, und obgleich Josephine in ihrem
Bruder den vortrefflichen Arzt schützt und den edeln Charakter liebt, ist sie
doch nicht imstande, Ragni freundlich entgegenzukommen. Sie verreist, um
die anrüchigen Verwandten nicht in die Gesellschaft einführen zu müssen, und
bald ist zwischen beiden Familien eine uuübersteigbare Scheidewand aufgerichtet.
Der übermäßig beschäftigte Eduard bemerkt zwar nichts von den kleinstädtischen
Intriguen, aber um so schmerzlicher empfindet Ragni diesen Zustand der
gesellschaftlichen Achtung. Bald geraten der junge Arzt und der Pfarrer
heftig aneinander. Dem Maurer Andersen, der verunglückt ist, muß ein Bein
abgenommen werden; trotz der Weigerung des Kranken führt Eduard die not¬
wendige Operation aus und befiehlt, daß dem Unglücklichen davon nichts mit¬
geteilt werde, die Aufregung könne tötlich wirken. Da erscheint der Pfarrer
am Krankenbette; er kann es mit seinein religiösen Denken und Empfinden
nicht vereinbaren, den Kranke" zu belügen -- Andersen stirbt. Der Krieg
zwischen dem freigeistigen Arzte, der an kein Dogma mehr glaubt, und dem
Pfarrer, der sich immer hartnäckiger in seine orthodoxe Verblendung hinein¬
arbeitet, beginnt um mit allen Waffen, die der religiöse Fanatismus, die
Herzlosigkeit und die Gemeinheit nur leihen können. Das Opfer dieses Kampfes
ist die unglückliche, hilflose und kindliche Ragni. Man belauscht sie auf Schritt
und Tritt; man legt ihrem unschuldigen Verkehr mit dem jungen Musik¬
schwärmer Karl Menk unlautere Motive unter. Man weiß ihren frühern
Gatten, Sören Kule, nach derselben Stadt zu locken, damit er des Doktors
Nachbargrundstück übernehme. Endlich bricht Ragni unter diesen nichtswürdigen


Groiizlwwn 1 1891, 70

ist zum zweitenmal verheiratet, und zwar mit der achtzehnjährigen Ncigni,
der Titelheldin des Romans. Sie ist ans einem Berliner Konservatorium zur
Klaviervirtuosin ausgebildet worden und muß etwas Berückendes besitzen
— worin das liegt, wird nicht gesagt —, denn Eduards Freund Thomas
Nendalen ist über Hals über Kops ans seiner Wohnung bei Knies aus¬
gezogen und hat sie Eduard abgetreten. Er schildert Ragni mit den wenig
schmeichelhaften Worten: „Dumm sieht sie aus, Gott verzeih mirs, dumm!
die Stirn könnte sie allenfalls retten, aber die verdeckt sie ganz mit ihren
Haaren!"

Nach einer breit ausgeführten Vorbereitung, wo Ragni nur immer weint,
mit dem Kopfe schüttelt, nickt oder davouhuscht, bis Kaltem in Schlafrock und
Pantoffeln — das ist bezeichnend — sie endlich im dunkeln Korridor faßt
und in sein Zimmer zieht, entschließt sie sich, den widerwärtigen Sören Kule
zu verlassen, und flieht zu einem Verwandten Eduards nach Amerika. So¬
bald Kaltem seine Zukunft gesichert sieht, holt er Ragni von dort zurück,
heiratet sie und läßt sich als Arzt in der Stadt nieder, wo Ole Tust als
eifriger Pfarrer und glücklicher Familienvater mit Josephine lebt. Mit Schrecken
und Entrüstung gewahren das die Pfarrersleute. Eduards Ehe mit Ragni
gilt ihnen für unsittlich und verwerflich, und obgleich Josephine in ihrem
Bruder den vortrefflichen Arzt schützt und den edeln Charakter liebt, ist sie
doch nicht imstande, Ragni freundlich entgegenzukommen. Sie verreist, um
die anrüchigen Verwandten nicht in die Gesellschaft einführen zu müssen, und
bald ist zwischen beiden Familien eine uuübersteigbare Scheidewand aufgerichtet.
Der übermäßig beschäftigte Eduard bemerkt zwar nichts von den kleinstädtischen
Intriguen, aber um so schmerzlicher empfindet Ragni diesen Zustand der
gesellschaftlichen Achtung. Bald geraten der junge Arzt und der Pfarrer
heftig aneinander. Dem Maurer Andersen, der verunglückt ist, muß ein Bein
abgenommen werden; trotz der Weigerung des Kranken führt Eduard die not¬
wendige Operation aus und befiehlt, daß dem Unglücklichen davon nichts mit¬
geteilt werde, die Aufregung könne tötlich wirken. Da erscheint der Pfarrer
am Krankenbette; er kann es mit seinein religiösen Denken und Empfinden
nicht vereinbaren, den Kranke» zu belügen — Andersen stirbt. Der Krieg
zwischen dem freigeistigen Arzte, der an kein Dogma mehr glaubt, und dem
Pfarrer, der sich immer hartnäckiger in seine orthodoxe Verblendung hinein¬
arbeitet, beginnt um mit allen Waffen, die der religiöse Fanatismus, die
Herzlosigkeit und die Gemeinheit nur leihen können. Das Opfer dieses Kampfes
ist die unglückliche, hilflose und kindliche Ragni. Man belauscht sie auf Schritt
und Tritt; man legt ihrem unschuldigen Verkehr mit dem jungen Musik¬
schwärmer Karl Menk unlautere Motive unter. Man weiß ihren frühern
Gatten, Sören Kule, nach derselben Stadt zu locken, damit er des Doktors
Nachbargrundstück übernehme. Endlich bricht Ragni unter diesen nichtswürdigen


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[0561] ist zum zweitenmal verheiratet, und zwar mit der achtzehnjährigen Ncigni, der Titelheldin des Romans. Sie ist ans einem Berliner Konservatorium zur Klaviervirtuosin ausgebildet worden und muß etwas Berückendes besitzen — worin das liegt, wird nicht gesagt —, denn Eduards Freund Thomas Nendalen ist über Hals über Kops ans seiner Wohnung bei Knies aus¬ gezogen und hat sie Eduard abgetreten. Er schildert Ragni mit den wenig schmeichelhaften Worten: „Dumm sieht sie aus, Gott verzeih mirs, dumm! die Stirn könnte sie allenfalls retten, aber die verdeckt sie ganz mit ihren Haaren!" Nach einer breit ausgeführten Vorbereitung, wo Ragni nur immer weint, mit dem Kopfe schüttelt, nickt oder davouhuscht, bis Kaltem in Schlafrock und Pantoffeln — das ist bezeichnend — sie endlich im dunkeln Korridor faßt und in sein Zimmer zieht, entschließt sie sich, den widerwärtigen Sören Kule zu verlassen, und flieht zu einem Verwandten Eduards nach Amerika. So¬ bald Kaltem seine Zukunft gesichert sieht, holt er Ragni von dort zurück, heiratet sie und läßt sich als Arzt in der Stadt nieder, wo Ole Tust als eifriger Pfarrer und glücklicher Familienvater mit Josephine lebt. Mit Schrecken und Entrüstung gewahren das die Pfarrersleute. Eduards Ehe mit Ragni gilt ihnen für unsittlich und verwerflich, und obgleich Josephine in ihrem Bruder den vortrefflichen Arzt schützt und den edeln Charakter liebt, ist sie doch nicht imstande, Ragni freundlich entgegenzukommen. Sie verreist, um die anrüchigen Verwandten nicht in die Gesellschaft einführen zu müssen, und bald ist zwischen beiden Familien eine uuübersteigbare Scheidewand aufgerichtet. Der übermäßig beschäftigte Eduard bemerkt zwar nichts von den kleinstädtischen Intriguen, aber um so schmerzlicher empfindet Ragni diesen Zustand der gesellschaftlichen Achtung. Bald geraten der junge Arzt und der Pfarrer heftig aneinander. Dem Maurer Andersen, der verunglückt ist, muß ein Bein abgenommen werden; trotz der Weigerung des Kranken führt Eduard die not¬ wendige Operation aus und befiehlt, daß dem Unglücklichen davon nichts mit¬ geteilt werde, die Aufregung könne tötlich wirken. Da erscheint der Pfarrer am Krankenbette; er kann es mit seinein religiösen Denken und Empfinden nicht vereinbaren, den Kranke» zu belügen — Andersen stirbt. Der Krieg zwischen dem freigeistigen Arzte, der an kein Dogma mehr glaubt, und dem Pfarrer, der sich immer hartnäckiger in seine orthodoxe Verblendung hinein¬ arbeitet, beginnt um mit allen Waffen, die der religiöse Fanatismus, die Herzlosigkeit und die Gemeinheit nur leihen können. Das Opfer dieses Kampfes ist die unglückliche, hilflose und kindliche Ragni. Man belauscht sie auf Schritt und Tritt; man legt ihrem unschuldigen Verkehr mit dem jungen Musik¬ schwärmer Karl Menk unlautere Motive unter. Man weiß ihren frühern Gatten, Sören Kule, nach derselben Stadt zu locken, damit er des Doktors Nachbargrundstück übernehme. Endlich bricht Ragni unter diesen nichtswürdigen Groiizlwwn 1 1891, 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/561>, abgerufen am 04.07.2024.