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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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vbachtungsgabe; so, wenn er ein einer Stelle fügt: In den höheren Schulen
kann zuweilen ein Geist herrschen, der in grellem Widerspruch zu dein Geist
in der Stadt steht, in der die Schule liegt; es ist sogar die Regel, daß die
Schule in gewissen Dingen unter ganz selbständigen Einwirkungen steht.
Ein einziger Lehrer kann die Schüler auf seinem eignen Wege halten, ebenso
wie es von einem oder mehreren der Kameraden abhängt, ob ein ritterlicher
Geist unter deu Knaben herrscht oder ein gegenteiliger (!), ob ein Geist des
Gehorsams oder nicht."

Ole Tust studirt Theologie; sein eifriger Kirchenglanbe, sein Melanchthon-
gesicht und sein versteckter, aber glühender Ehrgeiz verschaffen ihm den Bei¬
namen des Bischofs. Aus dem nichtsnutzigen Ednard Kaltem wird ein
fleißiger Mediziner, der vor allem nach einer tiefern Bildung und uach
einer freiern Weltanschauung trachtet und allmählich von bitterm Groll
gegen die Kirche und die Theologe" erfüllt wird. "Deu Theologe", sagt er
auf einer Landpartie, die er mit seiner Schwester Josephine, mit Ole Tust
nud rudern Freunden macht, geht die allereinfachste Ehrlichkeit ab. Sie ver¬
schweigen, daß die wichtigsten Teile ihres Glaubens den Juden nicht offenbart,
sondern von ihnen anderwärts hergenommen sind. So der Glaube an die
Unsterblichkeit -- auch der stammt vou deu Ägyptern. Dasselbe gilt von
den zehn Geboten. Kein Mensch klettert auf einen hohen Berg, um sich
während eiues Gewitters das offenbaren, zu lassen, was man schon seit tausend
Jahren wußte. Woher stammt der Teufel? Woher die Höllenstrafen? Woher
der jüngste Tag und das jüngste Gericht? Woher die Engel? Die Juden
kannten nichts von alledem. Die Prediger sind -- mit einem Worte, sie
untersuchen die Sachen nicht ehrlich und erzählen den Leuten mir das, was
sie für gut halten." So sei Simson der Sonnengott, der phönizische Herakles.
Wie sinnlos zu glauben, daß jemand seine Stärke im Haare habe! Sobald
man aber davon ausgehe, daß die Haare die Sonnenstrahlen sein sollen, lang
zur Sommerzeit nud in des Winters Schoß abgeschnitten, so erhalte die Sache
Sinn. Niemals hätten die Bienen Honig in ein Ans gelegt; aber wenn wir
hörten, daß es jedesmal, wenn die Sonne dnrch ein Sternzeiche" ging, z. B.
dnrch das des Löwen, hieß: die Sonne hat den Löwen erschlage" -- ja, dann
verstünden wir, daß die Bienen ihren Honig in das Aas des erschlagenen
Löwen, d. h. in die wärmste Zeit des Sommers gelegt habe".

Ole Tust steht vor dieser freigeistige" Enthüllung ohnmächtig da; ihm
fehlen die Waffen, um seinen Glauben verteidigen zu rönnen. Er kämpft mit
sich, sein Inneres ist umso tiefer verletzt, als Josephine, seine Geliebte, seine
Niederlage miterlebt hat. Aber noch fanatischer klammert er sich an das Bibel-
Wort, glänzend besteht er seine theologische Prüfmig und wird Pfarrer.

Eduard Kaltem wohnt als Student bei Sören Kule, einem durch laster¬
haftes Leben gelähmte" und blind gewordene" reiche" Fischhändler. Dieser


vbachtungsgabe; so, wenn er ein einer Stelle fügt: In den höheren Schulen
kann zuweilen ein Geist herrschen, der in grellem Widerspruch zu dein Geist
in der Stadt steht, in der die Schule liegt; es ist sogar die Regel, daß die
Schule in gewissen Dingen unter ganz selbständigen Einwirkungen steht.
Ein einziger Lehrer kann die Schüler auf seinem eignen Wege halten, ebenso
wie es von einem oder mehreren der Kameraden abhängt, ob ein ritterlicher
Geist unter deu Knaben herrscht oder ein gegenteiliger (!), ob ein Geist des
Gehorsams oder nicht."

Ole Tust studirt Theologie; sein eifriger Kirchenglanbe, sein Melanchthon-
gesicht und sein versteckter, aber glühender Ehrgeiz verschaffen ihm den Bei¬
namen des Bischofs. Aus dem nichtsnutzigen Ednard Kaltem wird ein
fleißiger Mediziner, der vor allem nach einer tiefern Bildung und uach
einer freiern Weltanschauung trachtet und allmählich von bitterm Groll
gegen die Kirche und die Theologe» erfüllt wird. „Deu Theologe», sagt er
auf einer Landpartie, die er mit seiner Schwester Josephine, mit Ole Tust
nud rudern Freunden macht, geht die allereinfachste Ehrlichkeit ab. Sie ver¬
schweigen, daß die wichtigsten Teile ihres Glaubens den Juden nicht offenbart,
sondern von ihnen anderwärts hergenommen sind. So der Glaube an die
Unsterblichkeit — auch der stammt vou deu Ägyptern. Dasselbe gilt von
den zehn Geboten. Kein Mensch klettert auf einen hohen Berg, um sich
während eiues Gewitters das offenbaren, zu lassen, was man schon seit tausend
Jahren wußte. Woher stammt der Teufel? Woher die Höllenstrafen? Woher
der jüngste Tag und das jüngste Gericht? Woher die Engel? Die Juden
kannten nichts von alledem. Die Prediger sind — mit einem Worte, sie
untersuchen die Sachen nicht ehrlich und erzählen den Leuten mir das, was
sie für gut halten." So sei Simson der Sonnengott, der phönizische Herakles.
Wie sinnlos zu glauben, daß jemand seine Stärke im Haare habe! Sobald
man aber davon ausgehe, daß die Haare die Sonnenstrahlen sein sollen, lang
zur Sommerzeit nud in des Winters Schoß abgeschnitten, so erhalte die Sache
Sinn. Niemals hätten die Bienen Honig in ein Ans gelegt; aber wenn wir
hörten, daß es jedesmal, wenn die Sonne dnrch ein Sternzeiche» ging, z. B.
dnrch das des Löwen, hieß: die Sonne hat den Löwen erschlage» — ja, dann
verstünden wir, daß die Bienen ihren Honig in das Aas des erschlagenen
Löwen, d. h. in die wärmste Zeit des Sommers gelegt habe».

Ole Tust steht vor dieser freigeistige» Enthüllung ohnmächtig da; ihm
fehlen die Waffen, um seinen Glauben verteidigen zu rönnen. Er kämpft mit
sich, sein Inneres ist umso tiefer verletzt, als Josephine, seine Geliebte, seine
Niederlage miterlebt hat. Aber noch fanatischer klammert er sich an das Bibel-
Wort, glänzend besteht er seine theologische Prüfmig und wird Pfarrer.

Eduard Kaltem wohnt als Student bei Sören Kule, einem durch laster¬
haftes Leben gelähmte» und blind gewordene» reiche» Fischhändler. Dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/560>, abgerufen am 02.07.2024.