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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Björnsons Ragni

der Inhalt von "Ragni" dürftig, der Stoff verzettelt und die Darstellung
durch die wiederholten Naturschilderungen und die realistische Kleinmalerei
für den Leser oft geradezu ermüdend. In "Nagni" ist kaum ein Fortschritt
Björnsons auf dem Gebiete der epischen Kunst zu verzeichnen; wir können auch
Brandes nicht Recht geben, wenn er in seinen "Modernen Geistern" von Björnson
sagt: "Sieht man von mißlungnen Einzelheiten ab, wer kann dann verhörtet
genug sein, um nicht den Born einer neuen und eigentümlichen Poesie zu
empfinden, der die Werke aus Björnsons zweiter Periode, zweiter Jugend sollte
mau sagen, durchströmt! Eine brennende Wahrheitsliebe hat diesen Büchern
ihren Stempel ausgedrückt; ein männlicher fester Charakter giebt sich in ihnen
kund. Welcher Reichtum an neuen Gedanken auf allen Gebieten, über Staat
und Gesellschaft, Ehe und Hans!" Wir gestehen, daß wir in "Thomas
Nendalen" und in "Ragni" vergebens nach diesem Reichtum an neuen An¬
schauungen gesucht haben. Oder ist die leitende Idee in "Thomas Nendalen"
etwa neu, die der Dichter mit den Worten ausspricht: "Alle seine Gedanken
waren auf Pädagogik und Erziehung gerichtet, und der Mittelpunkt davon
wieder war der Gedanke, daß jedes einzelne Kind glücklich durch das "gefähr¬
liche Alter" geführt werden müsse, das zu so verschiedenem Zeitpunkt eintritt.
In dieser Periode büßten viele etwas ein, viele erlitten Wunden, die erst
später heilten; die, welche ein besseres Erbe, bessere Bedingungen hatten, gingen
unbeschäoigt daraus hervor, aber das war kaum die Mehrzahl. Alle Er¬
ziehung, aller Unterricht sollte sich darum drehen, einen sittliche" Menschen
hervorzubringen, dies war sein Erstes und Letztes."

Auch die dem Roman "Ragni" zu Grunde liegende Tendenz, das eng¬
herzige, übermäßig Sittenstrenge und selbstgerechte Pharisäertum zu geißeln,
hat nichts Ursprüngliches an sich; und wenn Björnson in diesem Werte das
Vorurteil der Gesellschaft bekämpft, eine geschiedne Frau, die sich wieder ver¬
heiratet, begehe einen Ehebruch und müsse aus der Gesellschaft ausgestoßen
werden, so verstehen wir in Deutschland diesen mit viel Umständlichkeit und
Mühe geschilderten Kampf sür eine andre Anffnssuug nicht recht und können
daher dem Roman nicht das Interesse abgewinnen, das er bei den norwegische"
Kleinstädtern gefunden hat. Die sittliche, religiöse lind politische Engherzigkeit,
das bäurisch eigensinnige, wortkarge und brütende Wesen und der beschränkte
geistige Horizont der in dem Roman geschilderten Nordländer scheinen that¬
sächlich eine Folge von dem engen Gesichtskreise zu sein, den die massigen
Felslandschaften bilden; denn oft gestattet er den Thalbewohuern nnr nach einer
Richtung einen schmalen Spalt zum Fernblick, n"d dieser Mangel an einer
weiten Perspektive macht sich auch bei Björnson gleich bemerkbar, sobald er
andre Frage" ">it Probleme behandelt als die spießbürgerlichen Norwegens.

Trotz der großartigen "ut farbenprächtige" Schilderungen, die er auch
in "Ragni" von der norwegischen Küste giebt, von dem Meere mit seiner


Björnsons Ragni

der Inhalt von „Ragni" dürftig, der Stoff verzettelt und die Darstellung
durch die wiederholten Naturschilderungen und die realistische Kleinmalerei
für den Leser oft geradezu ermüdend. In „Nagni" ist kaum ein Fortschritt
Björnsons auf dem Gebiete der epischen Kunst zu verzeichnen; wir können auch
Brandes nicht Recht geben, wenn er in seinen „Modernen Geistern" von Björnson
sagt: „Sieht man von mißlungnen Einzelheiten ab, wer kann dann verhörtet
genug sein, um nicht den Born einer neuen und eigentümlichen Poesie zu
empfinden, der die Werke aus Björnsons zweiter Periode, zweiter Jugend sollte
mau sagen, durchströmt! Eine brennende Wahrheitsliebe hat diesen Büchern
ihren Stempel ausgedrückt; ein männlicher fester Charakter giebt sich in ihnen
kund. Welcher Reichtum an neuen Gedanken auf allen Gebieten, über Staat
und Gesellschaft, Ehe und Hans!" Wir gestehen, daß wir in „Thomas
Nendalen" und in „Ragni" vergebens nach diesem Reichtum an neuen An¬
schauungen gesucht haben. Oder ist die leitende Idee in „Thomas Nendalen"
etwa neu, die der Dichter mit den Worten ausspricht: „Alle seine Gedanken
waren auf Pädagogik und Erziehung gerichtet, und der Mittelpunkt davon
wieder war der Gedanke, daß jedes einzelne Kind glücklich durch das „gefähr¬
liche Alter" geführt werden müsse, das zu so verschiedenem Zeitpunkt eintritt.
In dieser Periode büßten viele etwas ein, viele erlitten Wunden, die erst
später heilten; die, welche ein besseres Erbe, bessere Bedingungen hatten, gingen
unbeschäoigt daraus hervor, aber das war kaum die Mehrzahl. Alle Er¬
ziehung, aller Unterricht sollte sich darum drehen, einen sittliche» Menschen
hervorzubringen, dies war sein Erstes und Letztes."

Auch die dem Roman „Ragni" zu Grunde liegende Tendenz, das eng¬
herzige, übermäßig Sittenstrenge und selbstgerechte Pharisäertum zu geißeln,
hat nichts Ursprüngliches an sich; und wenn Björnson in diesem Werte das
Vorurteil der Gesellschaft bekämpft, eine geschiedne Frau, die sich wieder ver¬
heiratet, begehe einen Ehebruch und müsse aus der Gesellschaft ausgestoßen
werden, so verstehen wir in Deutschland diesen mit viel Umständlichkeit und
Mühe geschilderten Kampf sür eine andre Anffnssuug nicht recht und können
daher dem Roman nicht das Interesse abgewinnen, das er bei den norwegische»
Kleinstädtern gefunden hat. Die sittliche, religiöse lind politische Engherzigkeit,
das bäurisch eigensinnige, wortkarge und brütende Wesen und der beschränkte
geistige Horizont der in dem Roman geschilderten Nordländer scheinen that¬
sächlich eine Folge von dem engen Gesichtskreise zu sein, den die massigen
Felslandschaften bilden; denn oft gestattet er den Thalbewohuern nnr nach einer
Richtung einen schmalen Spalt zum Fernblick, n»d dieser Mangel an einer
weiten Perspektive macht sich auch bei Björnson gleich bemerkbar, sobald er
andre Frage» »>it Probleme behandelt als die spießbürgerlichen Norwegens.

Trotz der großartigen »ut farbenprächtige» Schilderungen, die er auch
in „Ragni" von der norwegischen Küste giebt, von dem Meere mit seiner


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[0558] Björnsons Ragni der Inhalt von „Ragni" dürftig, der Stoff verzettelt und die Darstellung durch die wiederholten Naturschilderungen und die realistische Kleinmalerei für den Leser oft geradezu ermüdend. In „Nagni" ist kaum ein Fortschritt Björnsons auf dem Gebiete der epischen Kunst zu verzeichnen; wir können auch Brandes nicht Recht geben, wenn er in seinen „Modernen Geistern" von Björnson sagt: „Sieht man von mißlungnen Einzelheiten ab, wer kann dann verhörtet genug sein, um nicht den Born einer neuen und eigentümlichen Poesie zu empfinden, der die Werke aus Björnsons zweiter Periode, zweiter Jugend sollte mau sagen, durchströmt! Eine brennende Wahrheitsliebe hat diesen Büchern ihren Stempel ausgedrückt; ein männlicher fester Charakter giebt sich in ihnen kund. Welcher Reichtum an neuen Gedanken auf allen Gebieten, über Staat und Gesellschaft, Ehe und Hans!" Wir gestehen, daß wir in „Thomas Nendalen" und in „Ragni" vergebens nach diesem Reichtum an neuen An¬ schauungen gesucht haben. Oder ist die leitende Idee in „Thomas Nendalen" etwa neu, die der Dichter mit den Worten ausspricht: „Alle seine Gedanken waren auf Pädagogik und Erziehung gerichtet, und der Mittelpunkt davon wieder war der Gedanke, daß jedes einzelne Kind glücklich durch das „gefähr¬ liche Alter" geführt werden müsse, das zu so verschiedenem Zeitpunkt eintritt. In dieser Periode büßten viele etwas ein, viele erlitten Wunden, die erst später heilten; die, welche ein besseres Erbe, bessere Bedingungen hatten, gingen unbeschäoigt daraus hervor, aber das war kaum die Mehrzahl. Alle Er¬ ziehung, aller Unterricht sollte sich darum drehen, einen sittliche» Menschen hervorzubringen, dies war sein Erstes und Letztes." Auch die dem Roman „Ragni" zu Grunde liegende Tendenz, das eng¬ herzige, übermäßig Sittenstrenge und selbstgerechte Pharisäertum zu geißeln, hat nichts Ursprüngliches an sich; und wenn Björnson in diesem Werte das Vorurteil der Gesellschaft bekämpft, eine geschiedne Frau, die sich wieder ver¬ heiratet, begehe einen Ehebruch und müsse aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, so verstehen wir in Deutschland diesen mit viel Umständlichkeit und Mühe geschilderten Kampf sür eine andre Anffnssuug nicht recht und können daher dem Roman nicht das Interesse abgewinnen, das er bei den norwegische» Kleinstädtern gefunden hat. Die sittliche, religiöse lind politische Engherzigkeit, das bäurisch eigensinnige, wortkarge und brütende Wesen und der beschränkte geistige Horizont der in dem Roman geschilderten Nordländer scheinen that¬ sächlich eine Folge von dem engen Gesichtskreise zu sein, den die massigen Felslandschaften bilden; denn oft gestattet er den Thalbewohuern nnr nach einer Richtung einen schmalen Spalt zum Fernblick, n»d dieser Mangel an einer weiten Perspektive macht sich auch bei Björnson gleich bemerkbar, sobald er andre Frage» »>it Probleme behandelt als die spießbürgerlichen Norwegens. Trotz der großartigen »ut farbenprächtige» Schilderungen, die er auch in „Ragni" von der norwegischen Küste giebt, von dem Meere mit seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/558>, abgerufen am 27.06.2024.