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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Der JbsenknltuS, gegen den die Grenzboten von Anfang an zu Felde
gezogen sind, hat in gewissen Kreisen einen Umfang und eine Höhe erreicht,
die kaum noch weiter zu treiben sind. Nur mit Bedauern oder mit Spott
können unbefangne Geister, deren Ansichten über die wahren Aufgaben der
Dichtkunst noch nicht von litterarischen Marktschreiern beeinflußt worden sind,
diesem lächerlichen Treiben zuschauen; denn derartige Geschmacksverirrungen
gehören zu den schlimmsten Krankheitsanzeichen unsers ungesunden litterarischen
Lebens. Mau rühmt die lebenswahre, packende Charakterzeichnung des Nor¬
wegers; aber was sind das alles für gemachte, öde Geschöpfe, für langweilige,
unfreiwillig komische Figuren, die uns dieser griesgrämige, dramatische Grübler
fortwährend vor Augen führt: in Nora, in den Gespenstern, in den Stützen
der Gesellschaft, in der Wildente, in Hedda Gabler! Was ist das für eine
schale, poesielose Sprache, die mühsam durch alle Stücke dahinschleicht oder
ruckweise vvrwärtstaumelt, was ist das für ein trostloser Mangel an großen
Ideen und echte" Empfindungen, der überall nur durch eine wesenlose Ge-
heimnisthnerei, durch gedankenleere Gedankenstriche verhüllt werden kann!

Mit Björustjerne Björnson wird in Deutschland zwar noch nicht solcher
Humbug getrieben wie mit Ibsen. Aber auch bei ihm muß doch vor eiuer
blinden Überschätzung gewarnt werden, die der Unverstand oder der Eigen¬
nutz geschäftig zu verbreiten sucht. Björnson ist in Deutschland weiteren
Kreisen erst durch sein im Jahre 1875 erschienenes Drama "Ein Fallissement"
bekannt geworden; er hatte mit diesem Schauspiel, worin höchst prosaische
Geldfragen die Handlung tragen und den Konflikt heraufbeschwören, seine alt¬
nordische Sigurdpoesie und seine romantische Richtung verlassen und einen
entschloßuen Griff in die Wirklichkeit und in die wogenden Zeitfragen gethan.
Bald erschienen in schneller Folge sein Drama "Der Redakteur," ein scharfes
Strafgericht über die verkommenen Preßverhältnisse in Norwegen, "Das neue
System," sei" republikanisches Glaubenbekenutuis, und "Leonarda," eine kräftige
Zurückweisung aller sittlichen und religiösen Unduldsamkeit, die in dem pietistischen
Norwegen trotz aller demokratischen Freiheitsbestrebungen die Gemüter noch
immer zu sesseln scheint.

Dasselbe Streben nach sittlichen und gesellschaftlichen Reformen spricht sich
auch in seinem Roman "Thomas Nendalen" ans, und noch entschiedner in
dem soeben veröffentlichte" zweibändigen Werke "Nagni" (autorisirte Über¬
setzung Hamburg, 1891). Beide Romane gehören zusammen; sie habe" nach
Inhalt und Charakterzeichnung manche Berührungspunkte; denn der Held des
erster", der Schulvorsteher Thomas Nendalen, spielt auch in "Nagui" eine
Rolle und bildet mit semen überspannten Wesen, seinen pädagogischen An¬
schauungen und Bestrebttuge" ein Seitenstück zu dem Freidenker, dem von edler
Menschenliebe erfüllten Arzte Eduard Kaltem, dem Helden in "Nagni." Während
aber der erste Roman eine ganze Reihe bunter, fesselnder Bilder enthält, ist


Der JbsenknltuS, gegen den die Grenzboten von Anfang an zu Felde
gezogen sind, hat in gewissen Kreisen einen Umfang und eine Höhe erreicht,
die kaum noch weiter zu treiben sind. Nur mit Bedauern oder mit Spott
können unbefangne Geister, deren Ansichten über die wahren Aufgaben der
Dichtkunst noch nicht von litterarischen Marktschreiern beeinflußt worden sind,
diesem lächerlichen Treiben zuschauen; denn derartige Geschmacksverirrungen
gehören zu den schlimmsten Krankheitsanzeichen unsers ungesunden litterarischen
Lebens. Mau rühmt die lebenswahre, packende Charakterzeichnung des Nor¬
wegers; aber was sind das alles für gemachte, öde Geschöpfe, für langweilige,
unfreiwillig komische Figuren, die uns dieser griesgrämige, dramatische Grübler
fortwährend vor Augen führt: in Nora, in den Gespenstern, in den Stützen
der Gesellschaft, in der Wildente, in Hedda Gabler! Was ist das für eine
schale, poesielose Sprache, die mühsam durch alle Stücke dahinschleicht oder
ruckweise vvrwärtstaumelt, was ist das für ein trostloser Mangel an großen
Ideen und echte» Empfindungen, der überall nur durch eine wesenlose Ge-
heimnisthnerei, durch gedankenleere Gedankenstriche verhüllt werden kann!

Mit Björustjerne Björnson wird in Deutschland zwar noch nicht solcher
Humbug getrieben wie mit Ibsen. Aber auch bei ihm muß doch vor eiuer
blinden Überschätzung gewarnt werden, die der Unverstand oder der Eigen¬
nutz geschäftig zu verbreiten sucht. Björnson ist in Deutschland weiteren
Kreisen erst durch sein im Jahre 1875 erschienenes Drama „Ein Fallissement"
bekannt geworden; er hatte mit diesem Schauspiel, worin höchst prosaische
Geldfragen die Handlung tragen und den Konflikt heraufbeschwören, seine alt¬
nordische Sigurdpoesie und seine romantische Richtung verlassen und einen
entschloßuen Griff in die Wirklichkeit und in die wogenden Zeitfragen gethan.
Bald erschienen in schneller Folge sein Drama „Der Redakteur," ein scharfes
Strafgericht über die verkommenen Preßverhältnisse in Norwegen, „Das neue
System," sei» republikanisches Glaubenbekenutuis, und „Leonarda," eine kräftige
Zurückweisung aller sittlichen und religiösen Unduldsamkeit, die in dem pietistischen
Norwegen trotz aller demokratischen Freiheitsbestrebungen die Gemüter noch
immer zu sesseln scheint.

Dasselbe Streben nach sittlichen und gesellschaftlichen Reformen spricht sich
auch in seinem Roman „Thomas Nendalen" ans, und noch entschiedner in
dem soeben veröffentlichte» zweibändigen Werke „Nagni" (autorisirte Über¬
setzung Hamburg, 1891). Beide Romane gehören zusammen; sie habe» nach
Inhalt und Charakterzeichnung manche Berührungspunkte; denn der Held des
erster», der Schulvorsteher Thomas Nendalen, spielt auch in „Nagui" eine
Rolle und bildet mit semen überspannten Wesen, seinen pädagogischen An¬
schauungen und Bestrebttuge» ein Seitenstück zu dem Freidenker, dem von edler
Menschenliebe erfüllten Arzte Eduard Kaltem, dem Helden in „Nagni." Während
aber der erste Roman eine ganze Reihe bunter, fesselnder Bilder enthält, ist


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[0557] Der JbsenknltuS, gegen den die Grenzboten von Anfang an zu Felde gezogen sind, hat in gewissen Kreisen einen Umfang und eine Höhe erreicht, die kaum noch weiter zu treiben sind. Nur mit Bedauern oder mit Spott können unbefangne Geister, deren Ansichten über die wahren Aufgaben der Dichtkunst noch nicht von litterarischen Marktschreiern beeinflußt worden sind, diesem lächerlichen Treiben zuschauen; denn derartige Geschmacksverirrungen gehören zu den schlimmsten Krankheitsanzeichen unsers ungesunden litterarischen Lebens. Mau rühmt die lebenswahre, packende Charakterzeichnung des Nor¬ wegers; aber was sind das alles für gemachte, öde Geschöpfe, für langweilige, unfreiwillig komische Figuren, die uns dieser griesgrämige, dramatische Grübler fortwährend vor Augen führt: in Nora, in den Gespenstern, in den Stützen der Gesellschaft, in der Wildente, in Hedda Gabler! Was ist das für eine schale, poesielose Sprache, die mühsam durch alle Stücke dahinschleicht oder ruckweise vvrwärtstaumelt, was ist das für ein trostloser Mangel an großen Ideen und echte» Empfindungen, der überall nur durch eine wesenlose Ge- heimnisthnerei, durch gedankenleere Gedankenstriche verhüllt werden kann! Mit Björustjerne Björnson wird in Deutschland zwar noch nicht solcher Humbug getrieben wie mit Ibsen. Aber auch bei ihm muß doch vor eiuer blinden Überschätzung gewarnt werden, die der Unverstand oder der Eigen¬ nutz geschäftig zu verbreiten sucht. Björnson ist in Deutschland weiteren Kreisen erst durch sein im Jahre 1875 erschienenes Drama „Ein Fallissement" bekannt geworden; er hatte mit diesem Schauspiel, worin höchst prosaische Geldfragen die Handlung tragen und den Konflikt heraufbeschwören, seine alt¬ nordische Sigurdpoesie und seine romantische Richtung verlassen und einen entschloßuen Griff in die Wirklichkeit und in die wogenden Zeitfragen gethan. Bald erschienen in schneller Folge sein Drama „Der Redakteur," ein scharfes Strafgericht über die verkommenen Preßverhältnisse in Norwegen, „Das neue System," sei» republikanisches Glaubenbekenutuis, und „Leonarda," eine kräftige Zurückweisung aller sittlichen und religiösen Unduldsamkeit, die in dem pietistischen Norwegen trotz aller demokratischen Freiheitsbestrebungen die Gemüter noch immer zu sesseln scheint. Dasselbe Streben nach sittlichen und gesellschaftlichen Reformen spricht sich auch in seinem Roman „Thomas Nendalen" ans, und noch entschiedner in dem soeben veröffentlichte» zweibändigen Werke „Nagni" (autorisirte Über¬ setzung Hamburg, 1891). Beide Romane gehören zusammen; sie habe» nach Inhalt und Charakterzeichnung manche Berührungspunkte; denn der Held des erster», der Schulvorsteher Thomas Nendalen, spielt auch in „Nagui" eine Rolle und bildet mit semen überspannten Wesen, seinen pädagogischen An¬ schauungen und Bestrebttuge» ein Seitenstück zu dem Freidenker, dem von edler Menschenliebe erfüllten Arzte Eduard Kaltem, dem Helden in „Nagni." Während aber der erste Roman eine ganze Reihe bunter, fesselnder Bilder enthält, ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/557>, abgerufen am 30.06.2024.