Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.Rokokostildien Aber durch die Huldigungen, die der Musche dargebracht wurden, darf nachdrücklicher als der Spott der Satiriker, als die langatmigen Tiraden
Der derbe Ausdruck "Gusche," der uns jetzt die Stimmung stört, weil er eher Rokokostildien Aber durch die Huldigungen, die der Musche dargebracht wurden, darf nachdrücklicher als der Spott der Satiriker, als die langatmigen Tiraden
Der derbe Ausdruck „Gusche," der uns jetzt die Stimmung stört, weil er eher <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0524" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209757"/> <fw type="header" place="top"> Rokokostildien</fw><lb/> <p xml:id="ID_1466"> Aber durch die Huldigungen, die der Musche dargebracht wurden, darf<lb/> mau sich nicht zu dein Glauben verfuhren lassen, ihr Gebrauch sei so allgemein<lb/> gewesen, daß eine Pflege schlichter und wahrer Empfindung unmöglich geworden<lb/> wäre. Eine Reihe von Anzeichen spricht dafür, daß eine auf Einfachheit und<lb/> Natürlichkeit gerichtete Unterströmung mächtig war; sie verstärkt sich mit der<lb/> Zeit und gewinnt nach der Mitte des Jahrhunderts, gefördert durch das<lb/> Zusammenwirken verschiedener Einflüsse, die Herrschaft. Den polternden Er¬<lb/> güssen von Sittenpredigern, wie Abraham Se. Clara, der gegen „die Musch<lb/> und Mücken im Gesicht" wiederholt donnerte, wird man keine große Wirkung<lb/> beimessen können. Wichtiger sind Zeugnisse aus den moralischen Wochen¬<lb/> schriften des achtzehnten Jahrhunderts, die sich in den Kreisen der Frauen großen<lb/> Einflusses erfreuten. Der „Hamburger Patriot" (1724—1726) nimmt unter<lb/> ihnen eine der wichtigsten Stellen ein. Hier werden einmal „Gesetze einer<lb/> bloß für Frauenzimmer auzurichteudeu Akademie" aufgestellt. Die Teil¬<lb/> nehmerinnen verpflichten sich zu verschiedenen Gelübden. So heißt es: „Juwelen<lb/> und kostbare Spitzen zu tragen, anch Schnupftabak und unnötigen Puder zu<lb/> gebrauchen oder Schönflecken zu tragen, ist gäntzlich verboten." Man sieht,<lb/> wie eine Fronde weiblicher Gemüter den Kampf gegen die Modethorheiten auf¬<lb/> nimmt und einen Umschwung vorbereitet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1467"> nachdrücklicher als der Spott der Satiriker, als die langatmigen Tiraden<lb/> ereiferter Sittenprediger mögen auf die in falschem Schmucke prangenden<lb/> Schönen Mahnungen gewirkt haben, wie sie aus einem Liedchen entgegenklingeu,<lb/> das in der Mitte des Jahrhunderts oft angestimmt wurde. Es findet sich in<lb/> dem, wie zahlreiche Auflagen beweisen, gerade in Leipzig sehr beliebte» Lieder¬<lb/> buche von Sperontes „Die Singende Muse an der Pleiße." Der Dichter be¬<lb/> schwört die Geliebte:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_64" type="poem"> <l> Nimm die Musche<lb/> Von der Gusche,<lb/> Schönstes Kind, verstell dich uicht.<lb/> Wenn es der Natur gebricht,<lb/> Wirst du durch dergleichen Sachen<lb/> Dich wohl schwerlich schöner mache».<lb/> Drum entlarve dein Gesicht!</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_1468"> Der derbe Ausdruck „Gusche," der uns jetzt die Stimmung stört, weil er eher<lb/> eine Stallmagd als eine zierliche Rvkokogöttin als Angebetete vermuten läßt,<lb/> kann nicht in dem verächtlichen Sinne des heutigen Sprachgebrauches auf¬<lb/> gefaßt worden sein. Er ist gewiß zu den zahlreichen Silcsiazismeu zu rechnen,<lb/> die Philipp Spitta bei seineu Forschungen nach Namen und Heimat des<lb/> Dichters (Johann Sigismund Scholze aus Lvbendau in Schlesien, 1705 bis<lb/> 1750) den Weg gewiesen haben. Die ganze Haltung des Liedchens trägt<lb/> nichts an sich, was die gröbliche Bedeutung des Wortes rechtfertigen könnte.<lb/> Der Dichter schließt mit dem herzlichem Wunsche:</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0524]
Rokokostildien
Aber durch die Huldigungen, die der Musche dargebracht wurden, darf
mau sich nicht zu dein Glauben verfuhren lassen, ihr Gebrauch sei so allgemein
gewesen, daß eine Pflege schlichter und wahrer Empfindung unmöglich geworden
wäre. Eine Reihe von Anzeichen spricht dafür, daß eine auf Einfachheit und
Natürlichkeit gerichtete Unterströmung mächtig war; sie verstärkt sich mit der
Zeit und gewinnt nach der Mitte des Jahrhunderts, gefördert durch das
Zusammenwirken verschiedener Einflüsse, die Herrschaft. Den polternden Er¬
güssen von Sittenpredigern, wie Abraham Se. Clara, der gegen „die Musch
und Mücken im Gesicht" wiederholt donnerte, wird man keine große Wirkung
beimessen können. Wichtiger sind Zeugnisse aus den moralischen Wochen¬
schriften des achtzehnten Jahrhunderts, die sich in den Kreisen der Frauen großen
Einflusses erfreuten. Der „Hamburger Patriot" (1724—1726) nimmt unter
ihnen eine der wichtigsten Stellen ein. Hier werden einmal „Gesetze einer
bloß für Frauenzimmer auzurichteudeu Akademie" aufgestellt. Die Teil¬
nehmerinnen verpflichten sich zu verschiedenen Gelübden. So heißt es: „Juwelen
und kostbare Spitzen zu tragen, anch Schnupftabak und unnötigen Puder zu
gebrauchen oder Schönflecken zu tragen, ist gäntzlich verboten." Man sieht,
wie eine Fronde weiblicher Gemüter den Kampf gegen die Modethorheiten auf¬
nimmt und einen Umschwung vorbereitet.
nachdrücklicher als der Spott der Satiriker, als die langatmigen Tiraden
ereiferter Sittenprediger mögen auf die in falschem Schmucke prangenden
Schönen Mahnungen gewirkt haben, wie sie aus einem Liedchen entgegenklingeu,
das in der Mitte des Jahrhunderts oft angestimmt wurde. Es findet sich in
dem, wie zahlreiche Auflagen beweisen, gerade in Leipzig sehr beliebte» Lieder¬
buche von Sperontes „Die Singende Muse an der Pleiße." Der Dichter be¬
schwört die Geliebte:
Nimm die Musche
Von der Gusche,
Schönstes Kind, verstell dich uicht.
Wenn es der Natur gebricht,
Wirst du durch dergleichen Sachen
Dich wohl schwerlich schöner mache».
Drum entlarve dein Gesicht!
Der derbe Ausdruck „Gusche," der uns jetzt die Stimmung stört, weil er eher
eine Stallmagd als eine zierliche Rvkokogöttin als Angebetete vermuten läßt,
kann nicht in dem verächtlichen Sinne des heutigen Sprachgebrauches auf¬
gefaßt worden sein. Er ist gewiß zu den zahlreichen Silcsiazismeu zu rechnen,
die Philipp Spitta bei seineu Forschungen nach Namen und Heimat des
Dichters (Johann Sigismund Scholze aus Lvbendau in Schlesien, 1705 bis
1750) den Weg gewiesen haben. Die ganze Haltung des Liedchens trägt
nichts an sich, was die gröbliche Bedeutung des Wortes rechtfertigen könnte.
Der Dichter schließt mit dem herzlichem Wunsche:
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