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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Schuldig I

überlegt, er leugnet, er widerruft sein Geständnis, dem derselbe Richter jetzt
gläubiger gegenübersteht, als vor zwanzig Jahren den flehentlichen Versiche¬
rungen des unschuldigen Lehr. Da müssen die zwei einstigen Freunde ein¬
ander gegenübergestellt werden, und der halbtote Schmidt wird ins Gerichts¬
zimmer hereingetragen. Merkwürdig! Dieser Bösewicht ist rothaarig und trägt
einen Spitzbart, wie die ältesten Theaterteufel. Der moderne naturalistische
Stil hat noch keine neue Maske für seine Spitzbuben gefunden. Natürlich
vermag sich der kranke Schuft im Angesichte seines Opfers nicht mehr auf¬
rechtzuerhalten und bricht mit dem Geständnis seiner Schuld zusammen.

So weit der erste Akt: ein geschlossenes Effektstück für sich allein, aus dem
sich uur einige Fäden zum folgenden hinüberspinnen. Bei aller ausgediftelten
Absonderlichkeit der Voraussetzungen fehlt es diesem Akte nicht an einigem
Poetischen Gehalt. Das Entsetzliche eines Justizmordes wird uns mit packender
Macht zu Gemüte geführt. Die Stellung der Berufskriminalisten zu der Idee
des Rechtes wird durch Kontrastfiguren geschildert. Wir erhalten ein mit
humoristischen Lichtern erträglich gemachtes Bild der öden Häuslichkeit eines
Zuchthauses.

Mit einem Genrebilde setzt auch der zweite Akt ein. Martha Lehr ist
Besitzerin einer Schnapsbutike. Sie ist in den Jahren, die seit der Trennung
von ihrem Manne vergangen sind, zu einer hohläugigen, silberhaarigen Frau
geworden, die gespensterhaft mit schlürfenden Schritt über die Bühne schreitet.
Sie hat auch geglaubt, daß Thomas den Mord, wenn auch nur aus Eifer¬
sucht, begangen habe, und dieser Glaube hat ihre moralische Kraft untergraben.
Nach der naturalistischen Bühnenvorsehnng, die von allen Möglichkeiten die
allerböseste als wahrscheinlich annimmt, hat sich ihrer schönen Gestalt ein
Schuft namens Adolf Kramer, von keinem geringern Schlage, als jener
Wilhelm Schmidt, bemächtigt, und sie, die mit zwei kleinen Kindern hilflos
dastand, zu einem erniedrigenden, erdrückenden, schmählichen Kvnkubinat ge¬
nötigt. Die Kinder sind herangewachsen in der Verachtung der Mutter, im
Haß ihres Aushülters, in Erbitterung gegen die Welt und das Schicksal, mit
heißen, doch nicht ganz unedeln Trieben der Lebenslust und Thatkraft, ver¬
zerrt, wie es eben in solcher Umgebung nicht anders wahrscheinlich ist. Und
nun tritt in Begleitung eines humanen Assessors der weltfremde Thomas Lehr
in diese Behausung. Gerade hat sich seine schöne Tochter in einen braven
Mann verliebt, der sie in ehrlicher Weise zu seinem Weibe machen will, ob¬
wohl er ihr von dem Zuhälter ihrer Mutter mit sehr unredlichen Absichten
zugeführt worden war. Aus dem Schutthaufen wächst zuweilen eine schöne
Blume empor, der Kontrast macht sie noch schöner. Der Sohn Lehr, ein
hübscher Bursche in der Arbeiterbluse, zieht das ganze Register dumpfer Er¬
bitterung, wie mau sie in seinem Stande kennt, ans: ein Gemisch von Karl
Moor und Heinicke. Er hält seiner Mutter lange Predigten über das Un-


Schuldig I

überlegt, er leugnet, er widerruft sein Geständnis, dem derselbe Richter jetzt
gläubiger gegenübersteht, als vor zwanzig Jahren den flehentlichen Versiche¬
rungen des unschuldigen Lehr. Da müssen die zwei einstigen Freunde ein¬
ander gegenübergestellt werden, und der halbtote Schmidt wird ins Gerichts¬
zimmer hereingetragen. Merkwürdig! Dieser Bösewicht ist rothaarig und trägt
einen Spitzbart, wie die ältesten Theaterteufel. Der moderne naturalistische
Stil hat noch keine neue Maske für seine Spitzbuben gefunden. Natürlich
vermag sich der kranke Schuft im Angesichte seines Opfers nicht mehr auf¬
rechtzuerhalten und bricht mit dem Geständnis seiner Schuld zusammen.

So weit der erste Akt: ein geschlossenes Effektstück für sich allein, aus dem
sich uur einige Fäden zum folgenden hinüberspinnen. Bei aller ausgediftelten
Absonderlichkeit der Voraussetzungen fehlt es diesem Akte nicht an einigem
Poetischen Gehalt. Das Entsetzliche eines Justizmordes wird uns mit packender
Macht zu Gemüte geführt. Die Stellung der Berufskriminalisten zu der Idee
des Rechtes wird durch Kontrastfiguren geschildert. Wir erhalten ein mit
humoristischen Lichtern erträglich gemachtes Bild der öden Häuslichkeit eines
Zuchthauses.

Mit einem Genrebilde setzt auch der zweite Akt ein. Martha Lehr ist
Besitzerin einer Schnapsbutike. Sie ist in den Jahren, die seit der Trennung
von ihrem Manne vergangen sind, zu einer hohläugigen, silberhaarigen Frau
geworden, die gespensterhaft mit schlürfenden Schritt über die Bühne schreitet.
Sie hat auch geglaubt, daß Thomas den Mord, wenn auch nur aus Eifer¬
sucht, begangen habe, und dieser Glaube hat ihre moralische Kraft untergraben.
Nach der naturalistischen Bühnenvorsehnng, die von allen Möglichkeiten die
allerböseste als wahrscheinlich annimmt, hat sich ihrer schönen Gestalt ein
Schuft namens Adolf Kramer, von keinem geringern Schlage, als jener
Wilhelm Schmidt, bemächtigt, und sie, die mit zwei kleinen Kindern hilflos
dastand, zu einem erniedrigenden, erdrückenden, schmählichen Kvnkubinat ge¬
nötigt. Die Kinder sind herangewachsen in der Verachtung der Mutter, im
Haß ihres Aushülters, in Erbitterung gegen die Welt und das Schicksal, mit
heißen, doch nicht ganz unedeln Trieben der Lebenslust und Thatkraft, ver¬
zerrt, wie es eben in solcher Umgebung nicht anders wahrscheinlich ist. Und
nun tritt in Begleitung eines humanen Assessors der weltfremde Thomas Lehr
in diese Behausung. Gerade hat sich seine schöne Tochter in einen braven
Mann verliebt, der sie in ehrlicher Weise zu seinem Weibe machen will, ob¬
wohl er ihr von dem Zuhälter ihrer Mutter mit sehr unredlichen Absichten
zugeführt worden war. Aus dem Schutthaufen wächst zuweilen eine schöne
Blume empor, der Kontrast macht sie noch schöner. Der Sohn Lehr, ein
hübscher Bursche in der Arbeiterbluse, zieht das ganze Register dumpfer Er¬
bitterung, wie mau sie in seinem Stande kennt, ans: ein Gemisch von Karl
Moor und Heinicke. Er hält seiner Mutter lange Predigten über das Un-


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[0515] Schuldig I überlegt, er leugnet, er widerruft sein Geständnis, dem derselbe Richter jetzt gläubiger gegenübersteht, als vor zwanzig Jahren den flehentlichen Versiche¬ rungen des unschuldigen Lehr. Da müssen die zwei einstigen Freunde ein¬ ander gegenübergestellt werden, und der halbtote Schmidt wird ins Gerichts¬ zimmer hereingetragen. Merkwürdig! Dieser Bösewicht ist rothaarig und trägt einen Spitzbart, wie die ältesten Theaterteufel. Der moderne naturalistische Stil hat noch keine neue Maske für seine Spitzbuben gefunden. Natürlich vermag sich der kranke Schuft im Angesichte seines Opfers nicht mehr auf¬ rechtzuerhalten und bricht mit dem Geständnis seiner Schuld zusammen. So weit der erste Akt: ein geschlossenes Effektstück für sich allein, aus dem sich uur einige Fäden zum folgenden hinüberspinnen. Bei aller ausgediftelten Absonderlichkeit der Voraussetzungen fehlt es diesem Akte nicht an einigem Poetischen Gehalt. Das Entsetzliche eines Justizmordes wird uns mit packender Macht zu Gemüte geführt. Die Stellung der Berufskriminalisten zu der Idee des Rechtes wird durch Kontrastfiguren geschildert. Wir erhalten ein mit humoristischen Lichtern erträglich gemachtes Bild der öden Häuslichkeit eines Zuchthauses. Mit einem Genrebilde setzt auch der zweite Akt ein. Martha Lehr ist Besitzerin einer Schnapsbutike. Sie ist in den Jahren, die seit der Trennung von ihrem Manne vergangen sind, zu einer hohläugigen, silberhaarigen Frau geworden, die gespensterhaft mit schlürfenden Schritt über die Bühne schreitet. Sie hat auch geglaubt, daß Thomas den Mord, wenn auch nur aus Eifer¬ sucht, begangen habe, und dieser Glaube hat ihre moralische Kraft untergraben. Nach der naturalistischen Bühnenvorsehnng, die von allen Möglichkeiten die allerböseste als wahrscheinlich annimmt, hat sich ihrer schönen Gestalt ein Schuft namens Adolf Kramer, von keinem geringern Schlage, als jener Wilhelm Schmidt, bemächtigt, und sie, die mit zwei kleinen Kindern hilflos dastand, zu einem erniedrigenden, erdrückenden, schmählichen Kvnkubinat ge¬ nötigt. Die Kinder sind herangewachsen in der Verachtung der Mutter, im Haß ihres Aushülters, in Erbitterung gegen die Welt und das Schicksal, mit heißen, doch nicht ganz unedeln Trieben der Lebenslust und Thatkraft, ver¬ zerrt, wie es eben in solcher Umgebung nicht anders wahrscheinlich ist. Und nun tritt in Begleitung eines humanen Assessors der weltfremde Thomas Lehr in diese Behausung. Gerade hat sich seine schöne Tochter in einen braven Mann verliebt, der sie in ehrlicher Weise zu seinem Weibe machen will, ob¬ wohl er ihr von dem Zuhälter ihrer Mutter mit sehr unredlichen Absichten zugeführt worden war. Aus dem Schutthaufen wächst zuweilen eine schöne Blume empor, der Kontrast macht sie noch schöner. Der Sohn Lehr, ein hübscher Bursche in der Arbeiterbluse, zieht das ganze Register dumpfer Er¬ bitterung, wie mau sie in seinem Stande kennt, ans: ein Gemisch von Karl Moor und Heinicke. Er hält seiner Mutter lange Predigten über das Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/515>, abgerufen am 23.07.2024.