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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Schuldig I

moralische ihres Zusammenlebens mit ihrem Freunde und trinkt in einem fort
seinen Schnaps dazu (euphemistisch wird "Cognac" auf der Bühne gesagt, der
ihm doch bei dem Massenverbrauch zu teuer kommen würde). Mutter Martha
schlüge dabei immerfort als naturalistische Heilige die Augen zum Himmel
empor. Das sieht Thomas Lehr von seiner Ecke im Schnapsladeu, wo er
als Gast, unerkannt, seinen Platz genommen hat, und will fort, fort! Er
fühlt sich unfähig, sich in diesen Verhältnissen zurechtzufinden. Aber er kann
nicht fort, aus körperlicher Schwäche nicht, und als er sogar anhören muß,
daß sich die Tochter ihrer Eltern schämt, da bricht er zusammen.

Der dritte Akt bringt nun die Erkennnngsszenen und die Katastrophe,
die den entlassenen unschuldigen Zuchthäusler, mit einer wirklichen Schuld be¬
laden, die eine poetische Gerechtigkeit bilden soll, wieder ins Zuchthaus zurück¬
führt. Derselbe Schauplatz wie im zweiten Akt: die Schnapsbutite. Vater
und Sohn sitzen sich an einem Tisch einander gegenüber, ohne sich jedoch als
solche zu kennen, denn Thomas behält sein Inkognito. Der junge Mann
sprudelt seine ganze Galle gegen die "Bestie des Lebens" und gegen den schur¬
kischen Zuhälter seiner Mutter heraus und verrät seine Absicht, ihn zu töten.
Da schlüge Thomas so rührende Töne des geprüften Märtyrers an -- "Herr,
führe uns nicht in Versuchung!" betet er seinem Sohne vor, der ihn nicht kennt -- ,
daß der junge Mann, ergriffen und bekehrt, das Mordbeil von sich schleudert,
vor dem alten Manne niederkniee und gebessert davonstürzt. Thomas hat in
diesem Augenblicke zum erstenmale das Gefühl, doch zu etwas in der Welt nütze
zu sein, und es weht uns wieder einmal etwas von Poesie an. Nun folgt die
Erkennung mit seiner Frau. Da sie ihn für schuldig gehalten hat, nun aber
erführe, daß er unschuldig ist, so wird das, wie man glauben sollte, im ersten
Akte hinreichend ausgenutzte Motiv der Erbitterung über den Justizmord noch
einmal abgehandelt, um Martha Gelegenheit zu großen Phrasen und zum wirk¬
samen Aufschlagen ihrer Augen zu geben. Der Tropfen Poesie, der in dem
Stücke liegt, wird dadurch geradezu parodirt. Was nun? Thomas ist so gestellt,
daß er zunächst nicht weiß, wo er die Nacht verbringen soll. Der Assessor,
der ihn in die Schnapsbutike gebracht hatte, ist, da ihn der Dichter nicht
brauchen konnte, auf ein Weilchen fortgegangen und kommt in tragisch folgen¬
reicher Weise nicht wieder. Martha, die jetzt den alten Thomas noch mehr
als vor zwanzig Jahren liebt, möchte gleich fort, mit ihm, aber sie kann nicht,
sie fürchtet sich vor ihrem Zuhälter, der gerade jetzt ungeduldig an einer ver¬
sperrten Thür klopft. In dieser ratlosem Verlegenheit schiebt sie ihren Gatten
zur Thür des Schnapsladens hinaus, damit er auf der Straße in der Nacht
eine Weile warte, bis sie mit ihrem Freunde gesprochen hat. Und nun folgt
diese Aussprache, in der Kramer das Wort führt. In der empörendsten Weise
hüte er der armen Frau höhnisch seine Macht vor Angen, er spricht beinahe
schlimmer, als ein Mörder handelt. Thomas wird in seiner Neugier Zuhörer dieser


Schuldig I

moralische ihres Zusammenlebens mit ihrem Freunde und trinkt in einem fort
seinen Schnaps dazu (euphemistisch wird „Cognac" auf der Bühne gesagt, der
ihm doch bei dem Massenverbrauch zu teuer kommen würde). Mutter Martha
schlüge dabei immerfort als naturalistische Heilige die Augen zum Himmel
empor. Das sieht Thomas Lehr von seiner Ecke im Schnapsladeu, wo er
als Gast, unerkannt, seinen Platz genommen hat, und will fort, fort! Er
fühlt sich unfähig, sich in diesen Verhältnissen zurechtzufinden. Aber er kann
nicht fort, aus körperlicher Schwäche nicht, und als er sogar anhören muß,
daß sich die Tochter ihrer Eltern schämt, da bricht er zusammen.

Der dritte Akt bringt nun die Erkennnngsszenen und die Katastrophe,
die den entlassenen unschuldigen Zuchthäusler, mit einer wirklichen Schuld be¬
laden, die eine poetische Gerechtigkeit bilden soll, wieder ins Zuchthaus zurück¬
führt. Derselbe Schauplatz wie im zweiten Akt: die Schnapsbutite. Vater
und Sohn sitzen sich an einem Tisch einander gegenüber, ohne sich jedoch als
solche zu kennen, denn Thomas behält sein Inkognito. Der junge Mann
sprudelt seine ganze Galle gegen die „Bestie des Lebens" und gegen den schur¬
kischen Zuhälter seiner Mutter heraus und verrät seine Absicht, ihn zu töten.
Da schlüge Thomas so rührende Töne des geprüften Märtyrers an — „Herr,
führe uns nicht in Versuchung!" betet er seinem Sohne vor, der ihn nicht kennt — ,
daß der junge Mann, ergriffen und bekehrt, das Mordbeil von sich schleudert,
vor dem alten Manne niederkniee und gebessert davonstürzt. Thomas hat in
diesem Augenblicke zum erstenmale das Gefühl, doch zu etwas in der Welt nütze
zu sein, und es weht uns wieder einmal etwas von Poesie an. Nun folgt die
Erkennung mit seiner Frau. Da sie ihn für schuldig gehalten hat, nun aber
erführe, daß er unschuldig ist, so wird das, wie man glauben sollte, im ersten
Akte hinreichend ausgenutzte Motiv der Erbitterung über den Justizmord noch
einmal abgehandelt, um Martha Gelegenheit zu großen Phrasen und zum wirk¬
samen Aufschlagen ihrer Augen zu geben. Der Tropfen Poesie, der in dem
Stücke liegt, wird dadurch geradezu parodirt. Was nun? Thomas ist so gestellt,
daß er zunächst nicht weiß, wo er die Nacht verbringen soll. Der Assessor,
der ihn in die Schnapsbutike gebracht hatte, ist, da ihn der Dichter nicht
brauchen konnte, auf ein Weilchen fortgegangen und kommt in tragisch folgen¬
reicher Weise nicht wieder. Martha, die jetzt den alten Thomas noch mehr
als vor zwanzig Jahren liebt, möchte gleich fort, mit ihm, aber sie kann nicht,
sie fürchtet sich vor ihrem Zuhälter, der gerade jetzt ungeduldig an einer ver¬
sperrten Thür klopft. In dieser ratlosem Verlegenheit schiebt sie ihren Gatten
zur Thür des Schnapsladens hinaus, damit er auf der Straße in der Nacht
eine Weile warte, bis sie mit ihrem Freunde gesprochen hat. Und nun folgt
diese Aussprache, in der Kramer das Wort führt. In der empörendsten Weise
hüte er der armen Frau höhnisch seine Macht vor Angen, er spricht beinahe
schlimmer, als ein Mörder handelt. Thomas wird in seiner Neugier Zuhörer dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/516>, abgerufen am 23.07.2024.