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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Schuldig I

den bewußten Äußerungen die unwillkürlich sich verratenden Zeichen der Natur
und ihrer Wahrheit beobachtet und in Rechnung zieht. Es ist also ein Aus-
nahmefall besondrer Art, auf dein sich die Handlung des Stückes aufbaut, und
schon damit füllt es ans dein Bereiche der guten Kunst. Aber wir müssen mit
dieser Voraussetzung des Stückes rechnen.

Nach zwanzigjähriger Haft wird die Unschuld Thomas Lehrs offenbar.
Wilhelm Schmidt hat sich inzwischen in Amerika bereichert; als Millionär ist
er in die Heimat zurückgekehrt und hier, im Angesichte des Todes, legt er
dem Geistlichen ein freiwilliges Bekenntnis seiner Schuld ab, das der
Priester dem Präsidenten des Strafgerichtes mitteilt. Der Präsident ist der¬
selbe Mann, der damals in der Gerichtsverhandlung als schneidiger Staats¬
anwalt mit reiner, klarer Überzeugung die Verurteilung des Unschuldigen durch¬
gesetzt hat. Die Wirkung dieses Geständnisses auf den Richter sehen wir im
ersten Akte, mit ihr wird das Stück eröffnet: sie ist wahrhaft ergreifend. Der
greise Hüter des Rechtes ist in seinen Grundfesten erschüttert. Als hätte er
in seinem ganzen Leben niemals an der Unfehlbarkeit menschlicher Erkenntnis
zu zweifeln Gelegenheit gehabt, so benimmt er sich. Sei" Gewissen ist aller¬
dings durch das Bewußtsein, in jener Verurteilung das entscheidende Wort
gesprochen zu haben, doppelt bedrückt. Nun läßt er Thomas Lehr, den un¬
schuldigen Gefangenen, vorführen. Was ist in den langen Jahren der Haft
ans dem geworden! Ein gebrochener Mensch, man möchte sagen: kein Mensch
mehr, sondern eine Nummer, die Nummer 37, ein Mann ohne Namen, ohne
Beziehungen zu andern Menschen, ein Automat, ein lebender Leichnam. Und
dieses entsetzliche Elend, das Werk menschlichen Irrtums an einem Neben-
menschen, wird uns mit aller schauspielerischen Kunst eindringlich dargestellt,
um uns in allen Nerven zu erschüttern. Lehr will nichts mehr von dem Lebe"
wissen, das ihm so furchtbar mitgespielt hat: er will die Nummer 37 und nichts
weiter bleiben. In den ersten Jahren seiner Haft hat er sich ausgetobt, Flucht¬
versuche, Selbstmordversuche gemacht, und als sie mißlangen, ergab er sich apa¬
thisch in sein Schicksal. Niemand, weder Weib noch Kind, hat sich um ihn
gekümmert, sie haben weder nach ihm gefragt, noch ihn aufgesucht. Er will
verstorben sein, es ist ihm alles gleich, schuldig oder unschuldig, das ändert
doch nichts mehr an seinem Leben. Und nun wird gar die Vergangenheit
wieder heraufbeschworen, das ist ihm entsetzlich, aber er muß es sich gefallen
lassen. Nicht unfein bereitet ihn der Präsident auf die Verkündigung der Frei¬
heit vor. Aber Lehr will keine Freiheit mehr, er bittet, ihn im Kerker zu
lassen, den er schließlich liebgewonnen hat. Allein so gesetzmäßig als ihn vor
zwanzig Jahren das Gericht in den Kerker geschlossen hat, ebenso starr gesetzlich
muß es ihn jetzt in die Freiheit entlassen, und es verspricht, für ihn zu sorgen.

Wir sind aber mit dem ersten Akte noch nicht fertig; es folgt noch eine
theatralisch wirksame Episode. Wilhelm Schmidt hat sichs inzwischen unters


Schuldig I

den bewußten Äußerungen die unwillkürlich sich verratenden Zeichen der Natur
und ihrer Wahrheit beobachtet und in Rechnung zieht. Es ist also ein Aus-
nahmefall besondrer Art, auf dein sich die Handlung des Stückes aufbaut, und
schon damit füllt es ans dein Bereiche der guten Kunst. Aber wir müssen mit
dieser Voraussetzung des Stückes rechnen.

Nach zwanzigjähriger Haft wird die Unschuld Thomas Lehrs offenbar.
Wilhelm Schmidt hat sich inzwischen in Amerika bereichert; als Millionär ist
er in die Heimat zurückgekehrt und hier, im Angesichte des Todes, legt er
dem Geistlichen ein freiwilliges Bekenntnis seiner Schuld ab, das der
Priester dem Präsidenten des Strafgerichtes mitteilt. Der Präsident ist der¬
selbe Mann, der damals in der Gerichtsverhandlung als schneidiger Staats¬
anwalt mit reiner, klarer Überzeugung die Verurteilung des Unschuldigen durch¬
gesetzt hat. Die Wirkung dieses Geständnisses auf den Richter sehen wir im
ersten Akte, mit ihr wird das Stück eröffnet: sie ist wahrhaft ergreifend. Der
greise Hüter des Rechtes ist in seinen Grundfesten erschüttert. Als hätte er
in seinem ganzen Leben niemals an der Unfehlbarkeit menschlicher Erkenntnis
zu zweifeln Gelegenheit gehabt, so benimmt er sich. Sei» Gewissen ist aller¬
dings durch das Bewußtsein, in jener Verurteilung das entscheidende Wort
gesprochen zu haben, doppelt bedrückt. Nun läßt er Thomas Lehr, den un¬
schuldigen Gefangenen, vorführen. Was ist in den langen Jahren der Haft
ans dem geworden! Ein gebrochener Mensch, man möchte sagen: kein Mensch
mehr, sondern eine Nummer, die Nummer 37, ein Mann ohne Namen, ohne
Beziehungen zu andern Menschen, ein Automat, ein lebender Leichnam. Und
dieses entsetzliche Elend, das Werk menschlichen Irrtums an einem Neben-
menschen, wird uns mit aller schauspielerischen Kunst eindringlich dargestellt,
um uns in allen Nerven zu erschüttern. Lehr will nichts mehr von dem Lebe»
wissen, das ihm so furchtbar mitgespielt hat: er will die Nummer 37 und nichts
weiter bleiben. In den ersten Jahren seiner Haft hat er sich ausgetobt, Flucht¬
versuche, Selbstmordversuche gemacht, und als sie mißlangen, ergab er sich apa¬
thisch in sein Schicksal. Niemand, weder Weib noch Kind, hat sich um ihn
gekümmert, sie haben weder nach ihm gefragt, noch ihn aufgesucht. Er will
verstorben sein, es ist ihm alles gleich, schuldig oder unschuldig, das ändert
doch nichts mehr an seinem Leben. Und nun wird gar die Vergangenheit
wieder heraufbeschworen, das ist ihm entsetzlich, aber er muß es sich gefallen
lassen. Nicht unfein bereitet ihn der Präsident auf die Verkündigung der Frei¬
heit vor. Aber Lehr will keine Freiheit mehr, er bittet, ihn im Kerker zu
lassen, den er schließlich liebgewonnen hat. Allein so gesetzmäßig als ihn vor
zwanzig Jahren das Gericht in den Kerker geschlossen hat, ebenso starr gesetzlich
muß es ihn jetzt in die Freiheit entlassen, und es verspricht, für ihn zu sorgen.

Wir sind aber mit dem ersten Akte noch nicht fertig; es folgt noch eine
theatralisch wirksame Episode. Wilhelm Schmidt hat sichs inzwischen unters


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[0514] Schuldig I den bewußten Äußerungen die unwillkürlich sich verratenden Zeichen der Natur und ihrer Wahrheit beobachtet und in Rechnung zieht. Es ist also ein Aus- nahmefall besondrer Art, auf dein sich die Handlung des Stückes aufbaut, und schon damit füllt es ans dein Bereiche der guten Kunst. Aber wir müssen mit dieser Voraussetzung des Stückes rechnen. Nach zwanzigjähriger Haft wird die Unschuld Thomas Lehrs offenbar. Wilhelm Schmidt hat sich inzwischen in Amerika bereichert; als Millionär ist er in die Heimat zurückgekehrt und hier, im Angesichte des Todes, legt er dem Geistlichen ein freiwilliges Bekenntnis seiner Schuld ab, das der Priester dem Präsidenten des Strafgerichtes mitteilt. Der Präsident ist der¬ selbe Mann, der damals in der Gerichtsverhandlung als schneidiger Staats¬ anwalt mit reiner, klarer Überzeugung die Verurteilung des Unschuldigen durch¬ gesetzt hat. Die Wirkung dieses Geständnisses auf den Richter sehen wir im ersten Akte, mit ihr wird das Stück eröffnet: sie ist wahrhaft ergreifend. Der greise Hüter des Rechtes ist in seinen Grundfesten erschüttert. Als hätte er in seinem ganzen Leben niemals an der Unfehlbarkeit menschlicher Erkenntnis zu zweifeln Gelegenheit gehabt, so benimmt er sich. Sei» Gewissen ist aller¬ dings durch das Bewußtsein, in jener Verurteilung das entscheidende Wort gesprochen zu haben, doppelt bedrückt. Nun läßt er Thomas Lehr, den un¬ schuldigen Gefangenen, vorführen. Was ist in den langen Jahren der Haft ans dem geworden! Ein gebrochener Mensch, man möchte sagen: kein Mensch mehr, sondern eine Nummer, die Nummer 37, ein Mann ohne Namen, ohne Beziehungen zu andern Menschen, ein Automat, ein lebender Leichnam. Und dieses entsetzliche Elend, das Werk menschlichen Irrtums an einem Neben- menschen, wird uns mit aller schauspielerischen Kunst eindringlich dargestellt, um uns in allen Nerven zu erschüttern. Lehr will nichts mehr von dem Lebe» wissen, das ihm so furchtbar mitgespielt hat: er will die Nummer 37 und nichts weiter bleiben. In den ersten Jahren seiner Haft hat er sich ausgetobt, Flucht¬ versuche, Selbstmordversuche gemacht, und als sie mißlangen, ergab er sich apa¬ thisch in sein Schicksal. Niemand, weder Weib noch Kind, hat sich um ihn gekümmert, sie haben weder nach ihm gefragt, noch ihn aufgesucht. Er will verstorben sein, es ist ihm alles gleich, schuldig oder unschuldig, das ändert doch nichts mehr an seinem Leben. Und nun wird gar die Vergangenheit wieder heraufbeschworen, das ist ihm entsetzlich, aber er muß es sich gefallen lassen. Nicht unfein bereitet ihn der Präsident auf die Verkündigung der Frei¬ heit vor. Aber Lehr will keine Freiheit mehr, er bittet, ihn im Kerker zu lassen, den er schließlich liebgewonnen hat. Allein so gesetzmäßig als ihn vor zwanzig Jahren das Gericht in den Kerker geschlossen hat, ebenso starr gesetzlich muß es ihn jetzt in die Freiheit entlassen, und es verspricht, für ihn zu sorgen. Wir sind aber mit dem ersten Akte noch nicht fertig; es folgt noch eine theatralisch wirksame Episode. Wilhelm Schmidt hat sichs inzwischen unters

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/514>, abgerufen am 23.07.2024.