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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung

und gefälscht wurden, wie die einfältige Wortklauberei sie zu Axiomen und
Dogmen znsammenkoppelte, welche Brut diese metaphysischen Scheinbilder er¬
zeugt haben, wieviel lebensunfähige und unnatürliche Frühgeburten, wieviel
ungeheure und bösartige Hirngespinste!

Napoleon war dnrch Vererbung und Erziehung frei geblieben von der¬
artigen Trugbildern der modernen Kultur; er verachtete die Ideologen, er
erinnerte sich stets, ein'it tru.og.i1l6 non für 1s x"pic>r, mais sur ig. p6gu liu-
nrgino eini est ongtoni1l6N86. Ihn fesseln nur Thatsachen; alles, was er an
Begriffen über die Menschen besitzt, verdankt er der Beobachtung. Nicht durch
Spekulation sucht er über die Dinge klar zu werden, sondern lediglich durch
Praktische Beschäftigung mit ihnen; daher seine Neigung, sich auf allen Ge¬
bieten in die Einzelheiten zu vertiefen. Jeden Monat erhielt er zwanzig große
Aktenstücke voll vou Militärberichten, alle las er aufmerksam durch und pflegte
zu sagen: Ich finde an dieser Lektüre ein größeres Vergnügen als ein junges
Mädchen beim Romanlesen. Daher kam es denn auch, daß seine Gedanken
immer mit den Gegenständen übereinstimmten, oder wie Taine sagt: l'iclsv
vdeii lui 86 trouviz g.äsciug.t<z a, son oHst. Sein Gedächtnis war deshalb sür
abstrakte Dinge, Eigennamen, Wörter, Daten und dergleichen schwach, um so
kräftiger aber für Dinge, die er aus der Anschauung kannte, z. B. für mili¬
tärische und topographische Verhältnisse. Zu dieser ungetrübten Gedächtnis¬
kraft kommt noch ein beispielloser Scharfsinn in der Beurteilung der Menschen.
Niemand hat ihn in der Kunst übertroffen, die Zustände und Regungen einer
Seele zu entwirren, die herrschenden Beweggründe zu erfassen, die den Menschen
antreiben oder zurückhalten. Unter der Leitung dieser Hauptfähigkeit arbeiten
alle andern, und in der Kunst, die Menschen zu beherrschen, bleibt sein Genie
unumschränkt. Die Wörter "warum" und "wie" schweben immer auf seineu
Lippen; er sagt selbst: ?vui(me>i se eomnnznt sont, Ä68 "zu68ti0N8 8i nu>>><
an'on in; 8-arg.it trox 86 168 eg,ii'6. Sein Verfahren hierbei ist das der Ex¬
perimentalwissenschaften; es besteht darin, jede Hypothese oder Ableitung durch
eine genaue Anwendung zu prüfen, und zwar unter gegebenen Bedingungen.
Wie die physische Kraft genan bestimmt und gemessen werden kann durch die
Ablenkung einer Nadel, dnrch das Aufsteigen oder die Entfärbung einer Flüssig¬
keit, so kann anch die unsichtbare moralische Kraft annähernd gemessen werden
dnrch ihre sinnliche Offenbarung, durch Worte, Betonung und Gesten; Na¬
poleon kennt den abstrakten Begriff Mensch nicht, sondern er verhandelt nur
mit Einzelwesen, deren Eigenart er sofort durchschaut.

Napoleon hatte drei Kompendien, drei Atlanten in seinem Kopfe, einen
militärischen, der alle zur Kriegführung notwendigen Dinge mit der größten
Gennnigkeit enthielt, einen Zivilatlas, der alle Einzelheiten der Verwaltung
und die zahllosen Artikel der Einnahmen und Ausgaben aufwies, und endlich
ein gewaltiges biographisches oder psychologisches Sammelwerk, wo jeder


Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung

und gefälscht wurden, wie die einfältige Wortklauberei sie zu Axiomen und
Dogmen znsammenkoppelte, welche Brut diese metaphysischen Scheinbilder er¬
zeugt haben, wieviel lebensunfähige und unnatürliche Frühgeburten, wieviel
ungeheure und bösartige Hirngespinste!

Napoleon war dnrch Vererbung und Erziehung frei geblieben von der¬
artigen Trugbildern der modernen Kultur; er verachtete die Ideologen, er
erinnerte sich stets, ein'it tru.og.i1l6 non für 1s x»pic>r, mais sur ig. p6gu liu-
nrgino eini est ongtoni1l6N86. Ihn fesseln nur Thatsachen; alles, was er an
Begriffen über die Menschen besitzt, verdankt er der Beobachtung. Nicht durch
Spekulation sucht er über die Dinge klar zu werden, sondern lediglich durch
Praktische Beschäftigung mit ihnen; daher seine Neigung, sich auf allen Ge¬
bieten in die Einzelheiten zu vertiefen. Jeden Monat erhielt er zwanzig große
Aktenstücke voll vou Militärberichten, alle las er aufmerksam durch und pflegte
zu sagen: Ich finde an dieser Lektüre ein größeres Vergnügen als ein junges
Mädchen beim Romanlesen. Daher kam es denn auch, daß seine Gedanken
immer mit den Gegenständen übereinstimmten, oder wie Taine sagt: l'iclsv
vdeii lui 86 trouviz g.äsciug.t<z a, son oHst. Sein Gedächtnis war deshalb sür
abstrakte Dinge, Eigennamen, Wörter, Daten und dergleichen schwach, um so
kräftiger aber für Dinge, die er aus der Anschauung kannte, z. B. für mili¬
tärische und topographische Verhältnisse. Zu dieser ungetrübten Gedächtnis¬
kraft kommt noch ein beispielloser Scharfsinn in der Beurteilung der Menschen.
Niemand hat ihn in der Kunst übertroffen, die Zustände und Regungen einer
Seele zu entwirren, die herrschenden Beweggründe zu erfassen, die den Menschen
antreiben oder zurückhalten. Unter der Leitung dieser Hauptfähigkeit arbeiten
alle andern, und in der Kunst, die Menschen zu beherrschen, bleibt sein Genie
unumschränkt. Die Wörter „warum" und „wie" schweben immer auf seineu
Lippen; er sagt selbst: ?vui(me>i se eomnnznt sont, Ä68 «zu68ti0N8 8i nu>>><
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perimentalwissenschaften; es besteht darin, jede Hypothese oder Ableitung durch
eine genaue Anwendung zu prüfen, und zwar unter gegebenen Bedingungen.
Wie die physische Kraft genan bestimmt und gemessen werden kann durch die
Ablenkung einer Nadel, dnrch das Aufsteigen oder die Entfärbung einer Flüssig¬
keit, so kann anch die unsichtbare moralische Kraft annähernd gemessen werden
dnrch ihre sinnliche Offenbarung, durch Worte, Betonung und Gesten; Na¬
poleon kennt den abstrakten Begriff Mensch nicht, sondern er verhandelt nur
mit Einzelwesen, deren Eigenart er sofort durchschaut.

Napoleon hatte drei Kompendien, drei Atlanten in seinem Kopfe, einen
militärischen, der alle zur Kriegführung notwendigen Dinge mit der größten
Gennnigkeit enthielt, einen Zivilatlas, der alle Einzelheiten der Verwaltung
und die zahllosen Artikel der Einnahmen und Ausgaben aufwies, und endlich
ein gewaltiges biographisches oder psychologisches Sammelwerk, wo jeder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/319>, abgerufen am 01.07.2024.