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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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bemerkenswerte Mensch, jeder Stand, jedes Volt in seinen Eigentümlichkeiten
verzeichnet stand. Aber diese Masse von Notizen war nur der geringste Teil
von dem geistigen Inhalt, der sich in seinem mächtigen Gehirn bewegte; denn
über seinen Vorstellungen, die er sich von der Wirklichkeit gebildet hatte,
fluteten alle Ideen, die er sich von dem Möglichen machte. Thatsächlich war
denn auch seine schöpferische Einbildungskraft, l'unagmation vollstruetivs, die
hervorragendste von allen seinen geistigen Fähigkeiten. Er lebte schon in seinen
Häusern, ehe sie gebaut waren; die Größe wuchs bei ihm zum Maßlosen, das
Maßlose artete in Tollheit aus. Europa, sagte er, ist nur ein Maulwurfs-
haufen; große Reiche nud große Staatsumwälzungen hat es nur im Orient
gegeben, wo sechshundert Millionen Menschen leben. Seit zweihundert Jahren
giebt es in Europa nichts mehr zu thun; nur im Orient kann man noch im
großen Stile arbeiten.

Es war sein beständiger Traum, Paris zur Hauptstadt Europas, der
ganzen christlichen Welt zu machen, wo jeder König sein Palais besitzen und
dem Kaiser der Franzosen huldigen sollte. Der Weg nach Warschau war ihm
nur der Anfang des Weges nach Indien. Wenn Napoleon an diese Pläne
dachte, so ergriff ihn die volle Begeisterung eines Künstlers: II orvs ni^u"
l'iävsü et l'impossidlv. Mau erkennt ihn dann, sagt Taine, als das, was er
wirklich ist, als den nachgebornen Bruder eines Dante und eines Michel Angelo.
In der That, durch die festgehaltenen Umrisse seiner Vision, durch die Kraft,
den Zusammenhang und die innere Logik seiner Träumerei, durch die Tiefe
seiner Betrachtungen, durch die übermenschliche Größe seiner Ideen ist er ihnen
ähnlich, sogar völlig gleich. Sein Genie hat dieselbe Form und dieselben
Bestandteile; er ist einer von den drei souveränen Herrschern der italienischen
Renaissance. Nur wirkten die beiden ersten auf dem Papier oder dem Marmor,
während er auf dem lebendigen Menschen, auf dem empfindenden und leidenden
Körper arbeitete. Er sagte selbst von sich: Ich liebe die Macht, gewiß; aber
ich liebe sie als Künstler. Ich liebe sie, wie ein Virtuose seine Geige liebt;
ich liebe sie, um daraus Töne, Akkorde, Melodien zu locken.

Wie Napoleon seiner Gehirnsnbstanz und seineu geistigen Fähigkeiten nach
zu den großen Männern der italienischen Renaissance gehört, so muß man ihn
"och mehr hierzu rechnen, wenn man sein Nervensystem, sein Blut, sein
Temperament, seine moralischen Eigenschaften in Betracht zieht. Dreihundert
Jahre der Polizei, der Gerichtshöfe nud der Gendarmen, der gesellschaftlichen
Vorschriften, der friedlichen Sitten und der ererbten Zivilisation haben in uns
modernen Menschen die Gewalt und deu Sturm der eingebornen Leidenschaften
unterdrückt. Sie waren in Italien zur Zeit der Renaissance noch völlig un¬
berührt; es gab damals im Menschen lebhaftere und tiefere Regungen als
heutzutage, heftigere und ungezügeltere Bestrebungen, ungestümere und hart¬
näckigere Willenskräfte als die unsern. Welche Triebfeder auch damals den


bemerkenswerte Mensch, jeder Stand, jedes Volt in seinen Eigentümlichkeiten
verzeichnet stand. Aber diese Masse von Notizen war nur der geringste Teil
von dem geistigen Inhalt, der sich in seinem mächtigen Gehirn bewegte; denn
über seinen Vorstellungen, die er sich von der Wirklichkeit gebildet hatte,
fluteten alle Ideen, die er sich von dem Möglichen machte. Thatsächlich war
denn auch seine schöpferische Einbildungskraft, l'unagmation vollstruetivs, die
hervorragendste von allen seinen geistigen Fähigkeiten. Er lebte schon in seinen
Häusern, ehe sie gebaut waren; die Größe wuchs bei ihm zum Maßlosen, das
Maßlose artete in Tollheit aus. Europa, sagte er, ist nur ein Maulwurfs-
haufen; große Reiche nud große Staatsumwälzungen hat es nur im Orient
gegeben, wo sechshundert Millionen Menschen leben. Seit zweihundert Jahren
giebt es in Europa nichts mehr zu thun; nur im Orient kann man noch im
großen Stile arbeiten.

Es war sein beständiger Traum, Paris zur Hauptstadt Europas, der
ganzen christlichen Welt zu machen, wo jeder König sein Palais besitzen und
dem Kaiser der Franzosen huldigen sollte. Der Weg nach Warschau war ihm
nur der Anfang des Weges nach Indien. Wenn Napoleon an diese Pläne
dachte, so ergriff ihn die volle Begeisterung eines Künstlers: II orvs ni^u»
l'iävsü et l'impossidlv. Mau erkennt ihn dann, sagt Taine, als das, was er
wirklich ist, als den nachgebornen Bruder eines Dante und eines Michel Angelo.
In der That, durch die festgehaltenen Umrisse seiner Vision, durch die Kraft,
den Zusammenhang und die innere Logik seiner Träumerei, durch die Tiefe
seiner Betrachtungen, durch die übermenschliche Größe seiner Ideen ist er ihnen
ähnlich, sogar völlig gleich. Sein Genie hat dieselbe Form und dieselben
Bestandteile; er ist einer von den drei souveränen Herrschern der italienischen
Renaissance. Nur wirkten die beiden ersten auf dem Papier oder dem Marmor,
während er auf dem lebendigen Menschen, auf dem empfindenden und leidenden
Körper arbeitete. Er sagte selbst von sich: Ich liebe die Macht, gewiß; aber
ich liebe sie als Künstler. Ich liebe sie, wie ein Virtuose seine Geige liebt;
ich liebe sie, um daraus Töne, Akkorde, Melodien zu locken.

Wie Napoleon seiner Gehirnsnbstanz und seineu geistigen Fähigkeiten nach
zu den großen Männern der italienischen Renaissance gehört, so muß man ihn
»och mehr hierzu rechnen, wenn man sein Nervensystem, sein Blut, sein
Temperament, seine moralischen Eigenschaften in Betracht zieht. Dreihundert
Jahre der Polizei, der Gerichtshöfe nud der Gendarmen, der gesellschaftlichen
Vorschriften, der friedlichen Sitten und der ererbten Zivilisation haben in uns
modernen Menschen die Gewalt und deu Sturm der eingebornen Leidenschaften
unterdrückt. Sie waren in Italien zur Zeit der Renaissance noch völlig un¬
berührt; es gab damals im Menschen lebhaftere und tiefere Regungen als
heutzutage, heftigere und ungezügeltere Bestrebungen, ungestümere und hart¬
näckigere Willenskräfte als die unsern. Welche Triebfeder auch damals den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/320>, abgerufen am 03.07.2024.