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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung

stimmen mußten. Er kommt dabei in dem ersten Teile, wo er das Genie des
Kaisers in seine wesentlichen Eigenschaften zerlegt, zu folgenden Ergebnissen,
Was Napoleon vor allen seinen Zeitgenossen auszeichnet, ihn allen überlegen
macht, das ist die Vollständigkeit und natürliche Frische seiner Geisteskräfte,
l'intvAritö <Zs Kor Instrument nuzntcü. Sehr richtig bemerkt Taine hierzu:
Unser Gehirn hat nach einem Gebrauch von dreihundert Jahren etwas von
seiner ursprünglichen Zähigkeit, Schärfe und Geschmeidigkeit verloren; das
aufgezwungene Spezialistentum hat es von der normalen Richtung abgewendet,
es geradezu windschief und für andre Benutzung ungeeignet gemacht. Überdies
hat die Vervielfältigung der fertigen Ideen und der angelernten Methoden das
Gehirn verfilzt und aus seiner Thätigkeit eine Art von handwerksmäßiger
Arbeit gemacht. Schließlich ist es dnrch die Raubwirtschaft ermattet und dnrch
die andauernde Stubeichockerei völlig erschlafft. Napoleon hat diesen Zustand
nicht gekannt; er besaß das Gehirn eines Jtalieners aus dem Vierzehnten oder
fünfzehnten Jahrhundert und hätte in dieser Hinsicht der Zeitgenosse eines Dante
sein können, eines Michel-Angelo, eines Cäsar Borgia, eines Julius II. oder
Machiavelli; er war av SMZ' viergv vt, 60 raoo nsuvs, daher konnte er auch,
wie Roederer berichtet, achtzehn Stunden bei ein und derselben Arbeit zu¬
bringen, ohne daß sein Geist ermüdet wurde. Napoleon sagt selbst von sich!
"Nicht ein Genie offenbart mir plötzlich das, was ich in einer für die andern
unerwarteten Lage zu sprechen und zu thun habe, mein Nachdenken, meine
Überlegung macht es, ich arbeite immer, beim Essen, im Theater; des Nachts
wache ich auf, um zu arbeiten." Die Masse von Thatsachen, die sein Geist
aufspeichert und festhält, die Masse von Ideen, die er verarbeitet und neu
schafft, scheint die menschliche Fassungskraft zu überschreiten, und dieses un¬
ersättliche, unerschöpfliche, unverwüstliche Gehirn arbeitet so ohne Unterbrechung
dreißig Jahre lang.

Eine andre Wirkung seiner eigentümlichen Gehirnfaser ist die Bestimmt¬
heit, Klarheit und Festigkeit seiner Gedanken: Mnms it us tonotionnö viäs.
Wir verlieren, meint Taine, seit drei Jahrhunderten immer mehr die volle
und unmittelbare Anschauung der Dinge. Unter dem Zwange einer häus¬
lichen, vielseitigen und verlängertem Erziehung studiren wir nicht mehr die
Dinge, sondern ihre Zeichen: statt des Landes die Karte, statt der uns Da¬
sein kämpfenden Tiere Namenverzeichnisse, Einteilungen und höchstens ausge-
storbene Arten in unsern Museen, statt der fühlenden und handelnden Menschen
die Statistik, die Bücher, die Geschichte, die Litteratur, die Philosophie, kurz
gedruckte Worte und, was schlimmer ist, abstrakte Worte, die von Jahrhundert
zu Jahrhundert immer wesenloser, schattenhafter werden, immer mehr von der
Erfahrung abweichen, immer schwieriger zu verstehen sind. Gesellschaft, Staat,
Regierung, Souveränität, Recht, Freiheit -- man hat gesehen, wie diese Ideen,
die wichtigsten von allen, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zugestutzt


Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung

stimmen mußten. Er kommt dabei in dem ersten Teile, wo er das Genie des
Kaisers in seine wesentlichen Eigenschaften zerlegt, zu folgenden Ergebnissen,
Was Napoleon vor allen seinen Zeitgenossen auszeichnet, ihn allen überlegen
macht, das ist die Vollständigkeit und natürliche Frische seiner Geisteskräfte,
l'intvAritö <Zs Kor Instrument nuzntcü. Sehr richtig bemerkt Taine hierzu:
Unser Gehirn hat nach einem Gebrauch von dreihundert Jahren etwas von
seiner ursprünglichen Zähigkeit, Schärfe und Geschmeidigkeit verloren; das
aufgezwungene Spezialistentum hat es von der normalen Richtung abgewendet,
es geradezu windschief und für andre Benutzung ungeeignet gemacht. Überdies
hat die Vervielfältigung der fertigen Ideen und der angelernten Methoden das
Gehirn verfilzt und aus seiner Thätigkeit eine Art von handwerksmäßiger
Arbeit gemacht. Schließlich ist es dnrch die Raubwirtschaft ermattet und dnrch
die andauernde Stubeichockerei völlig erschlafft. Napoleon hat diesen Zustand
nicht gekannt; er besaß das Gehirn eines Jtalieners aus dem Vierzehnten oder
fünfzehnten Jahrhundert und hätte in dieser Hinsicht der Zeitgenosse eines Dante
sein können, eines Michel-Angelo, eines Cäsar Borgia, eines Julius II. oder
Machiavelli; er war av SMZ' viergv vt, 60 raoo nsuvs, daher konnte er auch,
wie Roederer berichtet, achtzehn Stunden bei ein und derselben Arbeit zu¬
bringen, ohne daß sein Geist ermüdet wurde. Napoleon sagt selbst von sich!
„Nicht ein Genie offenbart mir plötzlich das, was ich in einer für die andern
unerwarteten Lage zu sprechen und zu thun habe, mein Nachdenken, meine
Überlegung macht es, ich arbeite immer, beim Essen, im Theater; des Nachts
wache ich auf, um zu arbeiten." Die Masse von Thatsachen, die sein Geist
aufspeichert und festhält, die Masse von Ideen, die er verarbeitet und neu
schafft, scheint die menschliche Fassungskraft zu überschreiten, und dieses un¬
ersättliche, unerschöpfliche, unverwüstliche Gehirn arbeitet so ohne Unterbrechung
dreißig Jahre lang.

Eine andre Wirkung seiner eigentümlichen Gehirnfaser ist die Bestimmt¬
heit, Klarheit und Festigkeit seiner Gedanken: Mnms it us tonotionnö viäs.
Wir verlieren, meint Taine, seit drei Jahrhunderten immer mehr die volle
und unmittelbare Anschauung der Dinge. Unter dem Zwange einer häus¬
lichen, vielseitigen und verlängertem Erziehung studiren wir nicht mehr die
Dinge, sondern ihre Zeichen: statt des Landes die Karte, statt der uns Da¬
sein kämpfenden Tiere Namenverzeichnisse, Einteilungen und höchstens ausge-
storbene Arten in unsern Museen, statt der fühlenden und handelnden Menschen
die Statistik, die Bücher, die Geschichte, die Litteratur, die Philosophie, kurz
gedruckte Worte und, was schlimmer ist, abstrakte Worte, die von Jahrhundert
zu Jahrhundert immer wesenloser, schattenhafter werden, immer mehr von der
Erfahrung abweichen, immer schwieriger zu verstehen sind. Gesellschaft, Staat,
Regierung, Souveränität, Recht, Freiheit — man hat gesehen, wie diese Ideen,
die wichtigsten von allen, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zugestutzt


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[0318] Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung stimmen mußten. Er kommt dabei in dem ersten Teile, wo er das Genie des Kaisers in seine wesentlichen Eigenschaften zerlegt, zu folgenden Ergebnissen, Was Napoleon vor allen seinen Zeitgenossen auszeichnet, ihn allen überlegen macht, das ist die Vollständigkeit und natürliche Frische seiner Geisteskräfte, l'intvAritö <Zs Kor Instrument nuzntcü. Sehr richtig bemerkt Taine hierzu: Unser Gehirn hat nach einem Gebrauch von dreihundert Jahren etwas von seiner ursprünglichen Zähigkeit, Schärfe und Geschmeidigkeit verloren; das aufgezwungene Spezialistentum hat es von der normalen Richtung abgewendet, es geradezu windschief und für andre Benutzung ungeeignet gemacht. Überdies hat die Vervielfältigung der fertigen Ideen und der angelernten Methoden das Gehirn verfilzt und aus seiner Thätigkeit eine Art von handwerksmäßiger Arbeit gemacht. Schließlich ist es dnrch die Raubwirtschaft ermattet und dnrch die andauernde Stubeichockerei völlig erschlafft. Napoleon hat diesen Zustand nicht gekannt; er besaß das Gehirn eines Jtalieners aus dem Vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert und hätte in dieser Hinsicht der Zeitgenosse eines Dante sein können, eines Michel-Angelo, eines Cäsar Borgia, eines Julius II. oder Machiavelli; er war av SMZ' viergv vt, 60 raoo nsuvs, daher konnte er auch, wie Roederer berichtet, achtzehn Stunden bei ein und derselben Arbeit zu¬ bringen, ohne daß sein Geist ermüdet wurde. Napoleon sagt selbst von sich! „Nicht ein Genie offenbart mir plötzlich das, was ich in einer für die andern unerwarteten Lage zu sprechen und zu thun habe, mein Nachdenken, meine Überlegung macht es, ich arbeite immer, beim Essen, im Theater; des Nachts wache ich auf, um zu arbeiten." Die Masse von Thatsachen, die sein Geist aufspeichert und festhält, die Masse von Ideen, die er verarbeitet und neu schafft, scheint die menschliche Fassungskraft zu überschreiten, und dieses un¬ ersättliche, unerschöpfliche, unverwüstliche Gehirn arbeitet so ohne Unterbrechung dreißig Jahre lang. Eine andre Wirkung seiner eigentümlichen Gehirnfaser ist die Bestimmt¬ heit, Klarheit und Festigkeit seiner Gedanken: Mnms it us tonotionnö viäs. Wir verlieren, meint Taine, seit drei Jahrhunderten immer mehr die volle und unmittelbare Anschauung der Dinge. Unter dem Zwange einer häus¬ lichen, vielseitigen und verlängertem Erziehung studiren wir nicht mehr die Dinge, sondern ihre Zeichen: statt des Landes die Karte, statt der uns Da¬ sein kämpfenden Tiere Namenverzeichnisse, Einteilungen und höchstens ausge- storbene Arten in unsern Museen, statt der fühlenden und handelnden Menschen die Statistik, die Bücher, die Geschichte, die Litteratur, die Philosophie, kurz gedruckte Worte und, was schlimmer ist, abstrakte Worte, die von Jahrhundert zu Jahrhundert immer wesenloser, schattenhafter werden, immer mehr von der Erfahrung abweichen, immer schwieriger zu verstehen sind. Gesellschaft, Staat, Regierung, Souveränität, Recht, Freiheit — man hat gesehen, wie diese Ideen, die wichtigsten von allen, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zugestutzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/318>, abgerufen am 29.06.2024.