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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung

kraft, seine Leidenschaften und sittlichen Anschauungen heben ihn weit heraus
aus der Mitte aller seiner Zeitgenossen. Napoleon ist kein Mensch des acht¬
zehnten Jahrhunderts; er gehört einem ganz andern Geschlechte, einer ganz
andern Zeit an. Auf den ersten Blick erkannten seine Zeitgenossen in ihm
den Ausländer, den Italiener, und daneben gewisse Züge, die außerhalb aller
Begleichung standen. Taine findet in Napoleon alle Charaktereigenschaften
der italienischen Coudvttieri, jeuer kleinen Tyrannen des vierzehnten und fünf¬
zehnten Jahrhunderts wieder; er ist nach seiner Auffassung die letzte und
kräftigste Frucht jeuer italienischen Zeiten, die sich auf der abgeschiedenen Insel
Korsika, ungestört von deu Verwirrungen und Kämpfen, von den Stürmen
und Heimsuchungen der übrigen Kulturvölker allmählich vorbereiten und ent¬
wickeln konnte. "Er stammt von den großen Italienern ab, jenen Männer"
der That vom Jahre 1400, von militärischen Abenteurern, vou Thronräuberu
und von Gründern vorübergehender Staate". Er hat von ihnen durch un¬
mittelbare Übertragung das Blut und die angeborne geistige und sittliche Welt¬
anschauung geerbt." Taine sucht diese merkwürdige Erscheinung durch einen
fast zu poetisch klingenden Vergleich klar zu machen: ein vor dem Zeitalter
der Berarmung und des Verfalles gepflückter Schößling wurde in eine ähn¬
liche und entfernte Pflanzstätte getragen. Der Keim hat sich dort unberührt
erhalten, ist von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt worden und hat sich
durch Kreuzung immer wieder erneuert und gekräftigt. Endlich bei seinem
letzten Triebe entwickelt er sich in großartiger Weise mit denselben Zweigen
und Laubmassen und denselben Früchten, die einst der ursprüngliche Staunn
gezeitigt hatte. Die neuere Kultur und die französische Gartenkunst haben ihm
kaum einige Äste abnehmen, kaum einige Dornen abbrechen können: seine innere
Faserbildung, seine wesentlichen Bestandteile und seine selbstthätige aufstrebende
Kraft und Richtung sind nicht verändert worden. Aber der Boden, den er
in Frankreich und im übrigen Europa vorfindet, und der durchtränkt ist von
dem Gewitterregen der großen Staatsumwälzung, zeigt sich seinem Wachstum
günstiger, als das abgewirtschaftete Land des Mittelalters. Er steht hier in
seiner Art allein da, er verkümmert hier nicht, wie seine Vorfahren in Italien,
unter dem Wettbewerb seiner Gattung, nichts drängt ihn zurück, er kaun allen
Saft der Erde einfangen, das ganze Sonnenlicht des weiten Raumes. Er
kann zu dem Koloß werden, den die frühern Setzlinge nicht liefern konnten,
obgleich sie vielleicht ebenso lebenskräftig und sicher ebenso auffangend wie er
gewesen sind, den sie nicht liefern konnten, weil sie in einem weniger mürben
Boden aufgewachsen waren und sich gegenseitig in der freien Entwicklung ihrer
Kräfte behinderten.

Nach diesen allgemeine" Betrachtungen geht Taine auf die besondere
Analyse der geistigen und moralischen Kräfte über, die als tavultW msM-ess"^
das ganze Wesen, die Begriffe und Handlungen Napoleons notwendig be-


Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung

kraft, seine Leidenschaften und sittlichen Anschauungen heben ihn weit heraus
aus der Mitte aller seiner Zeitgenossen. Napoleon ist kein Mensch des acht¬
zehnten Jahrhunderts; er gehört einem ganz andern Geschlechte, einer ganz
andern Zeit an. Auf den ersten Blick erkannten seine Zeitgenossen in ihm
den Ausländer, den Italiener, und daneben gewisse Züge, die außerhalb aller
Begleichung standen. Taine findet in Napoleon alle Charaktereigenschaften
der italienischen Coudvttieri, jeuer kleinen Tyrannen des vierzehnten und fünf¬
zehnten Jahrhunderts wieder; er ist nach seiner Auffassung die letzte und
kräftigste Frucht jeuer italienischen Zeiten, die sich auf der abgeschiedenen Insel
Korsika, ungestört von deu Verwirrungen und Kämpfen, von den Stürmen
und Heimsuchungen der übrigen Kulturvölker allmählich vorbereiten und ent¬
wickeln konnte. „Er stammt von den großen Italienern ab, jenen Männer»
der That vom Jahre 1400, von militärischen Abenteurern, vou Thronräuberu
und von Gründern vorübergehender Staate«. Er hat von ihnen durch un¬
mittelbare Übertragung das Blut und die angeborne geistige und sittliche Welt¬
anschauung geerbt." Taine sucht diese merkwürdige Erscheinung durch einen
fast zu poetisch klingenden Vergleich klar zu machen: ein vor dem Zeitalter
der Berarmung und des Verfalles gepflückter Schößling wurde in eine ähn¬
liche und entfernte Pflanzstätte getragen. Der Keim hat sich dort unberührt
erhalten, ist von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt worden und hat sich
durch Kreuzung immer wieder erneuert und gekräftigt. Endlich bei seinem
letzten Triebe entwickelt er sich in großartiger Weise mit denselben Zweigen
und Laubmassen und denselben Früchten, die einst der ursprüngliche Staunn
gezeitigt hatte. Die neuere Kultur und die französische Gartenkunst haben ihm
kaum einige Äste abnehmen, kaum einige Dornen abbrechen können: seine innere
Faserbildung, seine wesentlichen Bestandteile und seine selbstthätige aufstrebende
Kraft und Richtung sind nicht verändert worden. Aber der Boden, den er
in Frankreich und im übrigen Europa vorfindet, und der durchtränkt ist von
dem Gewitterregen der großen Staatsumwälzung, zeigt sich seinem Wachstum
günstiger, als das abgewirtschaftete Land des Mittelalters. Er steht hier in
seiner Art allein da, er verkümmert hier nicht, wie seine Vorfahren in Italien,
unter dem Wettbewerb seiner Gattung, nichts drängt ihn zurück, er kaun allen
Saft der Erde einfangen, das ganze Sonnenlicht des weiten Raumes. Er
kann zu dem Koloß werden, den die frühern Setzlinge nicht liefern konnten,
obgleich sie vielleicht ebenso lebenskräftig und sicher ebenso auffangend wie er
gewesen sind, den sie nicht liefern konnten, weil sie in einem weniger mürben
Boden aufgewachsen waren und sich gegenseitig in der freien Entwicklung ihrer
Kräfte behinderten.

Nach diesen allgemeine» Betrachtungen geht Taine auf die besondere
Analyse der geistigen und moralischen Kräfte über, die als tavultW msM-ess«^
das ganze Wesen, die Begriffe und Handlungen Napoleons notwendig be-


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[0317] Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung kraft, seine Leidenschaften und sittlichen Anschauungen heben ihn weit heraus aus der Mitte aller seiner Zeitgenossen. Napoleon ist kein Mensch des acht¬ zehnten Jahrhunderts; er gehört einem ganz andern Geschlechte, einer ganz andern Zeit an. Auf den ersten Blick erkannten seine Zeitgenossen in ihm den Ausländer, den Italiener, und daneben gewisse Züge, die außerhalb aller Begleichung standen. Taine findet in Napoleon alle Charaktereigenschaften der italienischen Coudvttieri, jeuer kleinen Tyrannen des vierzehnten und fünf¬ zehnten Jahrhunderts wieder; er ist nach seiner Auffassung die letzte und kräftigste Frucht jeuer italienischen Zeiten, die sich auf der abgeschiedenen Insel Korsika, ungestört von deu Verwirrungen und Kämpfen, von den Stürmen und Heimsuchungen der übrigen Kulturvölker allmählich vorbereiten und ent¬ wickeln konnte. „Er stammt von den großen Italienern ab, jenen Männer» der That vom Jahre 1400, von militärischen Abenteurern, vou Thronräuberu und von Gründern vorübergehender Staate«. Er hat von ihnen durch un¬ mittelbare Übertragung das Blut und die angeborne geistige und sittliche Welt¬ anschauung geerbt." Taine sucht diese merkwürdige Erscheinung durch einen fast zu poetisch klingenden Vergleich klar zu machen: ein vor dem Zeitalter der Berarmung und des Verfalles gepflückter Schößling wurde in eine ähn¬ liche und entfernte Pflanzstätte getragen. Der Keim hat sich dort unberührt erhalten, ist von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt worden und hat sich durch Kreuzung immer wieder erneuert und gekräftigt. Endlich bei seinem letzten Triebe entwickelt er sich in großartiger Weise mit denselben Zweigen und Laubmassen und denselben Früchten, die einst der ursprüngliche Staunn gezeitigt hatte. Die neuere Kultur und die französische Gartenkunst haben ihm kaum einige Äste abnehmen, kaum einige Dornen abbrechen können: seine innere Faserbildung, seine wesentlichen Bestandteile und seine selbstthätige aufstrebende Kraft und Richtung sind nicht verändert worden. Aber der Boden, den er in Frankreich und im übrigen Europa vorfindet, und der durchtränkt ist von dem Gewitterregen der großen Staatsumwälzung, zeigt sich seinem Wachstum günstiger, als das abgewirtschaftete Land des Mittelalters. Er steht hier in seiner Art allein da, er verkümmert hier nicht, wie seine Vorfahren in Italien, unter dem Wettbewerb seiner Gattung, nichts drängt ihn zurück, er kaun allen Saft der Erde einfangen, das ganze Sonnenlicht des weiten Raumes. Er kann zu dem Koloß werden, den die frühern Setzlinge nicht liefern konnten, obgleich sie vielleicht ebenso lebenskräftig und sicher ebenso auffangend wie er gewesen sind, den sie nicht liefern konnten, weil sie in einem weniger mürben Boden aufgewachsen waren und sich gegenseitig in der freien Entwicklung ihrer Kräfte behinderten. Nach diesen allgemeine» Betrachtungen geht Taine auf die besondere Analyse der geistigen und moralischen Kräfte über, die als tavultW msM-ess«^ das ganze Wesen, die Begriffe und Handlungen Napoleons notwendig be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/317>, abgerufen am 26.06.2024.