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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Neue Lyrik

Pietät, Familiensinn, liebevolle Betrachtung des Alltagslebens, frische, unbe¬
fangene Sinnlichkeit, Herrschaft über die Form ohne Virtuosität. Schultern
hat sich auch wissenschaftlich um die Geheimnisse des poetischen Ausdruckes
bemüht, wie der Herausgeber erzählt, der solche Studien im Nachlasse neben
einem Nomanfragment, einem Drama und vielen andern lyrischen Dichtungen,
denen leider nur die letzte Hand fehlte, gefunden hat. Gestorben ist er in der
Nacht vom 11. auf den 12. Januar 1889 am Herzschlag. Die strenge Aus¬
wahl, die der Herausgeber getroffen hat, wird den Gedichten jedenfalls die
Dauer sichern, sodaß sie ihren Zweck erfüllt: das Andenken eines tüchtigen
Mannes und echten Dichters der Vergessenheit zu entreißen.

An diesen Tiroler Poeten reihen wir für heute noch einen Wiener, der
ein wesentlich andres Gesicht zeigt, den Freiherrn Alfred von Berger.")
Berger hat mit seinen im vorigen Sommer veröffentlichten "Dramatur¬
gischen Vorträgen" einen ungewöhnlichen Eindruck ans uns gemacht. Nicht
so sehr das reiche Wissen fesselte uns daran, als der ursprüngliche, ans eignem
Besitz schöpfende Geist, der sich in jenem kritischen Werke offenbarte. Mit
Nachdruck hat Berger selbst dort einmal gesagt, daß er alles, was er an
ästhetischen Beobachtungen und Urteilen mitteile, aus Erlebnissen an den Kunst¬
werken gewonnen habe, und auf dieses unmittelbare Erlebthaben, nicht aufs
Gelernte und Ersonnene, ist der Kritiker mit Recht besonders stolz; seine .Kritik
erhebt er damit gewissermaßen über jede Willkür, sie wird ihm zum Bekennt¬
nis, zur Beichte -- er kann nicht anders und stellt sich mit seiner Liebe und
mit> seinem Hasse frank und frei allen Angriffen und allen Parteien. Um
in diesem Stile Kritik üben zu können, muß man aber auch selbst eine ur¬
sprüngliche, für die mannigfaltigsten Erscheinungsformen der Kunst gleich em¬
pfängliche künstlerische Persönlichkeit sein, eine Natur; denn so ohne Willkür
denken müssen und es so rein und klar sagen können, wie Verger, heißt eben
nichts andres als Talent haben.

Mit diesen Gedanken nahmen wir seine Gedichte zur Hand. Die Beob¬
achtungen nur, die nur an ihnen machen konnten, haben uns einerseits be¬
friedigt, anderseits aber doch auch wieder enttäuscht. Die Gedichte sind nach
zwei Seiten hin zu betrachten. Erstens hat der Dichter darin Gelegenheit,
nicht bloß ein wissenschaftliches, sondern ein rein menschliches Bekenntnis abzu¬
legen; zweitens sollen die Gedichte auch als Kunstwerk ihren Wert haben.

Und da ist es denu merkwürdig, daß wir aus Bergers Lyrik über seinen
Menschen nicht viel mehr erfahren, als was wir dnrch seine stark persönlichen
kritischen Arbeiten ohnehin schon von ihm wissen. Er ist eine wesentlich be¬
schauliche Natur, ein philosophisch angelegter Geist.



Gesammelte Gedichte von Alfred Berger. Stuttgart, Verlag der I. G.
Cotta'schen Buchhandlung Nnchfvlger (M!). 1891.
Neue Lyrik

Pietät, Familiensinn, liebevolle Betrachtung des Alltagslebens, frische, unbe¬
fangene Sinnlichkeit, Herrschaft über die Form ohne Virtuosität. Schultern
hat sich auch wissenschaftlich um die Geheimnisse des poetischen Ausdruckes
bemüht, wie der Herausgeber erzählt, der solche Studien im Nachlasse neben
einem Nomanfragment, einem Drama und vielen andern lyrischen Dichtungen,
denen leider nur die letzte Hand fehlte, gefunden hat. Gestorben ist er in der
Nacht vom 11. auf den 12. Januar 1889 am Herzschlag. Die strenge Aus¬
wahl, die der Herausgeber getroffen hat, wird den Gedichten jedenfalls die
Dauer sichern, sodaß sie ihren Zweck erfüllt: das Andenken eines tüchtigen
Mannes und echten Dichters der Vergessenheit zu entreißen.

An diesen Tiroler Poeten reihen wir für heute noch einen Wiener, der
ein wesentlich andres Gesicht zeigt, den Freiherrn Alfred von Berger.")
Berger hat mit seinen im vorigen Sommer veröffentlichten „Dramatur¬
gischen Vorträgen" einen ungewöhnlichen Eindruck ans uns gemacht. Nicht
so sehr das reiche Wissen fesselte uns daran, als der ursprüngliche, ans eignem
Besitz schöpfende Geist, der sich in jenem kritischen Werke offenbarte. Mit
Nachdruck hat Berger selbst dort einmal gesagt, daß er alles, was er an
ästhetischen Beobachtungen und Urteilen mitteile, aus Erlebnissen an den Kunst¬
werken gewonnen habe, und auf dieses unmittelbare Erlebthaben, nicht aufs
Gelernte und Ersonnene, ist der Kritiker mit Recht besonders stolz; seine .Kritik
erhebt er damit gewissermaßen über jede Willkür, sie wird ihm zum Bekennt¬
nis, zur Beichte — er kann nicht anders und stellt sich mit seiner Liebe und
mit> seinem Hasse frank und frei allen Angriffen und allen Parteien. Um
in diesem Stile Kritik üben zu können, muß man aber auch selbst eine ur¬
sprüngliche, für die mannigfaltigsten Erscheinungsformen der Kunst gleich em¬
pfängliche künstlerische Persönlichkeit sein, eine Natur; denn so ohne Willkür
denken müssen und es so rein und klar sagen können, wie Verger, heißt eben
nichts andres als Talent haben.

Mit diesen Gedanken nahmen wir seine Gedichte zur Hand. Die Beob¬
achtungen nur, die nur an ihnen machen konnten, haben uns einerseits be¬
friedigt, anderseits aber doch auch wieder enttäuscht. Die Gedichte sind nach
zwei Seiten hin zu betrachten. Erstens hat der Dichter darin Gelegenheit,
nicht bloß ein wissenschaftliches, sondern ein rein menschliches Bekenntnis abzu¬
legen; zweitens sollen die Gedichte auch als Kunstwerk ihren Wert haben.

Und da ist es denu merkwürdig, daß wir aus Bergers Lyrik über seinen
Menschen nicht viel mehr erfahren, als was wir dnrch seine stark persönlichen
kritischen Arbeiten ohnehin schon von ihm wissen. Er ist eine wesentlich be¬
schauliche Natur, ein philosophisch angelegter Geist.



Gesammelte Gedichte von Alfred Berger. Stuttgart, Verlag der I. G.
Cotta'schen Buchhandlung Nnchfvlger (M!). 1891.
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[0235] Neue Lyrik Pietät, Familiensinn, liebevolle Betrachtung des Alltagslebens, frische, unbe¬ fangene Sinnlichkeit, Herrschaft über die Form ohne Virtuosität. Schultern hat sich auch wissenschaftlich um die Geheimnisse des poetischen Ausdruckes bemüht, wie der Herausgeber erzählt, der solche Studien im Nachlasse neben einem Nomanfragment, einem Drama und vielen andern lyrischen Dichtungen, denen leider nur die letzte Hand fehlte, gefunden hat. Gestorben ist er in der Nacht vom 11. auf den 12. Januar 1889 am Herzschlag. Die strenge Aus¬ wahl, die der Herausgeber getroffen hat, wird den Gedichten jedenfalls die Dauer sichern, sodaß sie ihren Zweck erfüllt: das Andenken eines tüchtigen Mannes und echten Dichters der Vergessenheit zu entreißen. An diesen Tiroler Poeten reihen wir für heute noch einen Wiener, der ein wesentlich andres Gesicht zeigt, den Freiherrn Alfred von Berger.") Berger hat mit seinen im vorigen Sommer veröffentlichten „Dramatur¬ gischen Vorträgen" einen ungewöhnlichen Eindruck ans uns gemacht. Nicht so sehr das reiche Wissen fesselte uns daran, als der ursprüngliche, ans eignem Besitz schöpfende Geist, der sich in jenem kritischen Werke offenbarte. Mit Nachdruck hat Berger selbst dort einmal gesagt, daß er alles, was er an ästhetischen Beobachtungen und Urteilen mitteile, aus Erlebnissen an den Kunst¬ werken gewonnen habe, und auf dieses unmittelbare Erlebthaben, nicht aufs Gelernte und Ersonnene, ist der Kritiker mit Recht besonders stolz; seine .Kritik erhebt er damit gewissermaßen über jede Willkür, sie wird ihm zum Bekennt¬ nis, zur Beichte — er kann nicht anders und stellt sich mit seiner Liebe und mit> seinem Hasse frank und frei allen Angriffen und allen Parteien. Um in diesem Stile Kritik üben zu können, muß man aber auch selbst eine ur¬ sprüngliche, für die mannigfaltigsten Erscheinungsformen der Kunst gleich em¬ pfängliche künstlerische Persönlichkeit sein, eine Natur; denn so ohne Willkür denken müssen und es so rein und klar sagen können, wie Verger, heißt eben nichts andres als Talent haben. Mit diesen Gedanken nahmen wir seine Gedichte zur Hand. Die Beob¬ achtungen nur, die nur an ihnen machen konnten, haben uns einerseits be¬ friedigt, anderseits aber doch auch wieder enttäuscht. Die Gedichte sind nach zwei Seiten hin zu betrachten. Erstens hat der Dichter darin Gelegenheit, nicht bloß ein wissenschaftliches, sondern ein rein menschliches Bekenntnis abzu¬ legen; zweitens sollen die Gedichte auch als Kunstwerk ihren Wert haben. Und da ist es denu merkwürdig, daß wir aus Bergers Lyrik über seinen Menschen nicht viel mehr erfahren, als was wir dnrch seine stark persönlichen kritischen Arbeiten ohnehin schon von ihm wissen. Er ist eine wesentlich be¬ schauliche Natur, ein philosophisch angelegter Geist. Gesammelte Gedichte von Alfred Berger. Stuttgart, Verlag der I. G. Cotta'schen Buchhandlung Nnchfvlger (M!). 1891.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/235>, abgerufen am 23.07.2024.