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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Neue Lyrik

uns doch in das Reich der Poesie. Dabei ist die natürliche Armut seines
Tones, die oft durchbrechende Schelmerei, die feine Beobachtung an Kindern
und Großen nicht wenig zu bewundern. Der leider anonyme Herausgeber
erinnert um Schullerus besondre Vorliebe für Mörikes Lyrik, und in der That
darf mau das "Notkelcheu" als ein Gegenstück zu dem berühmten "alten
Turmhahn" des schwäbischen Meisters betrachten. Wie dieser, so ergeht sich
auch das Notkelcheu in der betrachtenden Erzählung alles dessen, was es in
der Familienstube von seinem Käsig aus zu allen Tages- und allen Jahres¬
zeiten an den Kindern und Eltern beobachtet. Ein Prachtstück! In dem
einzigen satirischen Gedichte der Sammluug, das sich in der zweiten Hälfte zu
wuchtigem Pathos erhebt, im "Vogelsteller," verrät sich Schultern auch als
Vogelfreund. Es ist gegen eiuen "welschen Pfaffen" in Norditalien gerichtet,
der ans sicherm Versteck Netze gegen leckere Singvögel auswirft, um sich aus
ihnen einen guten Schmaus -- in Polenta -- zu bereiten. "Des deutschen
Waldes Seele" nennt Schultern die Singvögel, und zornig schildert er den
"welschen Pfaffen" beim "gelben Mahle":


Nie hat in seinen Tagen
Ein Strahl der Schönheit diese Brust erhellt;
Er fühlte nie an seinem Herzen schlagen
Ein andres Herz, von reiner Glut geschwellt;
Nie klang der Name Vater seinen Ohren,
Nicht rührt an ihn des Lebens Lust und Schmerz:
Wer so wie er der Menschheit abgeschworen,
Wie hätt' er für ein Vöglein wohl ein Herz?
Ihm vorgeschrieben ist in starren Zügen
Der freigcbvrcneu Gedanke!" Lnnf,
Nie schwingt er sich zu eignen neuen Flügen
Aus dem Geleis gemeiner Notdurft auf.
Nur seineu Gaumen reizt, was "us die Seele
Veredelnd hebt, die Lust deS Frühlingstags,
Der holde Drang der liedesfrohen Kehle,
Die stolze Wonne freien FlügclschlngS.

Mau glaubt es gern, was der Herausgeber erzählt, daß Anastasius Grün
an diesem schon vor zwanzig Jahren geschriebenen Gedichte Freude hatte.

Diese Proben werden genügen, um zu zeigen, daß die Sammluug der
Schulleruschen Gedichte auf engen Raume viele Töne vereinigt. Einzelne
Liebesgedichte wie: "Zurück nun ohne dich," "Im Park," die kleine Ballade
"Guter Tod," einzelne Naturstimmungsbilder: "Wintermorgen! frisch und klar,"
"Im Herbst," "Wohl unter deu grünen Linden" gehören ohne Zweifel zu den
Perlen deutscher Lyrik; es sind wirklich künstlerische Schöpfungen: Schultern
konnte gestalten und nicht bloß reden. Der Gesamteindruck, den er hinterläßt,
ist ungemein sympathisch: ein gesundes, natürliches Gefühl, keine Zerrissenheit.


Neue Lyrik

uns doch in das Reich der Poesie. Dabei ist die natürliche Armut seines
Tones, die oft durchbrechende Schelmerei, die feine Beobachtung an Kindern
und Großen nicht wenig zu bewundern. Der leider anonyme Herausgeber
erinnert um Schullerus besondre Vorliebe für Mörikes Lyrik, und in der That
darf mau das „Notkelcheu" als ein Gegenstück zu dem berühmten „alten
Turmhahn" des schwäbischen Meisters betrachten. Wie dieser, so ergeht sich
auch das Notkelcheu in der betrachtenden Erzählung alles dessen, was es in
der Familienstube von seinem Käsig aus zu allen Tages- und allen Jahres¬
zeiten an den Kindern und Eltern beobachtet. Ein Prachtstück! In dem
einzigen satirischen Gedichte der Sammluug, das sich in der zweiten Hälfte zu
wuchtigem Pathos erhebt, im „Vogelsteller," verrät sich Schultern auch als
Vogelfreund. Es ist gegen eiuen „welschen Pfaffen" in Norditalien gerichtet,
der ans sicherm Versteck Netze gegen leckere Singvögel auswirft, um sich aus
ihnen einen guten Schmaus — in Polenta — zu bereiten. „Des deutschen
Waldes Seele" nennt Schultern die Singvögel, und zornig schildert er den
„welschen Pfaffen" beim „gelben Mahle":


Nie hat in seinen Tagen
Ein Strahl der Schönheit diese Brust erhellt;
Er fühlte nie an seinem Herzen schlagen
Ein andres Herz, von reiner Glut geschwellt;
Nie klang der Name Vater seinen Ohren,
Nicht rührt an ihn des Lebens Lust und Schmerz:
Wer so wie er der Menschheit abgeschworen,
Wie hätt' er für ein Vöglein wohl ein Herz?
Ihm vorgeschrieben ist in starren Zügen
Der freigcbvrcneu Gedanke!» Lnnf,
Nie schwingt er sich zu eignen neuen Flügen
Aus dem Geleis gemeiner Notdurft auf.
Nur seineu Gaumen reizt, was »us die Seele
Veredelnd hebt, die Lust deS Frühlingstags,
Der holde Drang der liedesfrohen Kehle,
Die stolze Wonne freien FlügclschlngS.

Mau glaubt es gern, was der Herausgeber erzählt, daß Anastasius Grün
an diesem schon vor zwanzig Jahren geschriebenen Gedichte Freude hatte.

Diese Proben werden genügen, um zu zeigen, daß die Sammluug der
Schulleruschen Gedichte auf engen Raume viele Töne vereinigt. Einzelne
Liebesgedichte wie: „Zurück nun ohne dich," „Im Park," die kleine Ballade
„Guter Tod," einzelne Naturstimmungsbilder: „Wintermorgen! frisch und klar,"
„Im Herbst," „Wohl unter deu grünen Linden" gehören ohne Zweifel zu den
Perlen deutscher Lyrik; es sind wirklich künstlerische Schöpfungen: Schultern
konnte gestalten und nicht bloß reden. Der Gesamteindruck, den er hinterläßt,
ist ungemein sympathisch: ein gesundes, natürliches Gefühl, keine Zerrissenheit.


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[0234] Neue Lyrik uns doch in das Reich der Poesie. Dabei ist die natürliche Armut seines Tones, die oft durchbrechende Schelmerei, die feine Beobachtung an Kindern und Großen nicht wenig zu bewundern. Der leider anonyme Herausgeber erinnert um Schullerus besondre Vorliebe für Mörikes Lyrik, und in der That darf mau das „Notkelcheu" als ein Gegenstück zu dem berühmten „alten Turmhahn" des schwäbischen Meisters betrachten. Wie dieser, so ergeht sich auch das Notkelcheu in der betrachtenden Erzählung alles dessen, was es in der Familienstube von seinem Käsig aus zu allen Tages- und allen Jahres¬ zeiten an den Kindern und Eltern beobachtet. Ein Prachtstück! In dem einzigen satirischen Gedichte der Sammluug, das sich in der zweiten Hälfte zu wuchtigem Pathos erhebt, im „Vogelsteller," verrät sich Schultern auch als Vogelfreund. Es ist gegen eiuen „welschen Pfaffen" in Norditalien gerichtet, der ans sicherm Versteck Netze gegen leckere Singvögel auswirft, um sich aus ihnen einen guten Schmaus — in Polenta — zu bereiten. „Des deutschen Waldes Seele" nennt Schultern die Singvögel, und zornig schildert er den „welschen Pfaffen" beim „gelben Mahle": Nie hat in seinen Tagen Ein Strahl der Schönheit diese Brust erhellt; Er fühlte nie an seinem Herzen schlagen Ein andres Herz, von reiner Glut geschwellt; Nie klang der Name Vater seinen Ohren, Nicht rührt an ihn des Lebens Lust und Schmerz: Wer so wie er der Menschheit abgeschworen, Wie hätt' er für ein Vöglein wohl ein Herz? Ihm vorgeschrieben ist in starren Zügen Der freigcbvrcneu Gedanke!» Lnnf, Nie schwingt er sich zu eignen neuen Flügen Aus dem Geleis gemeiner Notdurft auf. Nur seineu Gaumen reizt, was »us die Seele Veredelnd hebt, die Lust deS Frühlingstags, Der holde Drang der liedesfrohen Kehle, Die stolze Wonne freien FlügclschlngS. Mau glaubt es gern, was der Herausgeber erzählt, daß Anastasius Grün an diesem schon vor zwanzig Jahren geschriebenen Gedichte Freude hatte. Diese Proben werden genügen, um zu zeigen, daß die Sammluug der Schulleruschen Gedichte auf engen Raume viele Töne vereinigt. Einzelne Liebesgedichte wie: „Zurück nun ohne dich," „Im Park," die kleine Ballade „Guter Tod," einzelne Naturstimmungsbilder: „Wintermorgen! frisch und klar," „Im Herbst," „Wohl unter deu grünen Linden" gehören ohne Zweifel zu den Perlen deutscher Lyrik; es sind wirklich künstlerische Schöpfungen: Schultern konnte gestalten und nicht bloß reden. Der Gesamteindruck, den er hinterläßt, ist ungemein sympathisch: ein gesundes, natürliches Gefühl, keine Zerrissenheit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/234>, abgerufen am 23.07.2024.