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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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weise als eine Verirrung des Kausalitätstriebes mi, wenn jemand nach dem
Ursprung der Welt fragt, wie sie es für die unbegreiflichste aller Dummheiten
und vielleicht für eine "sittliche Verirrung" hält, wenn jemand einen Dollar
liegen läßt, weil er nicht Lust hat, ihn ans dem Schmutze herausznwühlen.
So ist denn für Carus die Metaphysik uicht die Wissenschaft von dem, was
hinter den Dingen liegt, von den Entstehungsgründen der Erscheinungen und
dem Wesen der Dinge, sondern nur die formale, mathematische Seite der
Wissenschaft, die Gesamtheit aller Sätze, denen eine innewohnende Notwendigkeit
unbedingte Geltung verleiht, sodaß sie durch keine Erfahrung widerlegt werde"
können. Er glaubt sich mit dieser Begriffsbestimmung auf Kant berufen zu
dürfen. Das Begreifen der Dinge, sagt Carus, geht nicht etwa durch die
Dinge hindurch zu Gründen, die hinter ihnen liegen. Wenn das "Begreifen"
darin bestünde, so wäre die Welt allerdings unbegreiflich. Sondern das Wort
meint nur, daß erstens "von den Dingen in unserm Gehirn ein Bild vor¬
handen ist in Gestalt eines empfindenden Nervengewebes, das nnter Umständen
bewußt werden kann." sDas ist falsch ausgedrückt; das Nervengewebe ist keine
Bildergalerie; die Bilder wohnen nur in unsrer Seele.^ Und das Wort meint
zweitens eine systematische Anordnung dieser Bilder. Das eine wollen Nur
Carus zugestehen, daß er mit dem zweiten Satze das Wesen der Naturwissen¬
schaften richtig angiebt, die in der That nichts andres leisten, als daß sie den
Erscheinungen im systematischen Teile ihren richtigen Platz neben einander
und im dynamischen ihren richtigen Platz hinter einander anweisen.

Während Carus das dnrch uralte Erfahrung erwiesene Bedürfnis der
Menschenseele, nach dein Urquell des Weltalls und ihrem eignen jenseitigen
Urquell zu fragen, einfach leugnet, erklärt er mit der den Monisten eignen
Unfehlbarkeitsmiene die Wesenseinheit aller Dinge für eine unabweisbare Forde¬
rung der Vernunft, obwohl, abgesehen von den Scharen gewöhnlicher gläubiger
Christen, auch Männer wie Lotze in ihrem Geiste diese Forderung gar nicht
vorgefunden haben. Lotze kann die nicht begreifen, die, während doch "alles
Leben ans der Mannichfaltigkeit verschiedner und entgegengesetzter Wirkungen
fließt, unter dem, Vorwande nötiger Einheit eine traurige Monotonie des
Daseienden verlangen. Es mag wohl sein, daß andre Gründe die vermeint¬
liche Trennung unglaublich machen, aber in jenein bloß formellen Fehler eines
Mangels an Einheit liegt ein Motiv zu solcher Behauptung nicht, und wir
würden uns nicht im mindesten bedenken, falls die Thatsachen der Erfahrung
eine ähnliche Annahme nötig machten, die Anzahl solcher getrennter Gattungen
des Realen noch weit über diese Duplizität von Körper und Geist zu ver¬
mehren" (Medizinische Psychologie S. 23). Der Sache nach scheint Carus ja
mit Lotze und Leibniz übereinzustimmen, indem mich er das Geistesleben und
den Mechanismus der Körperwelt als zwei verschiedne Seiten desselben
Weltwesens ansieht und schon die kleinsten Teile dieses Wesens, die er lieber


weise als eine Verirrung des Kausalitätstriebes mi, wenn jemand nach dem
Ursprung der Welt fragt, wie sie es für die unbegreiflichste aller Dummheiten
und vielleicht für eine „sittliche Verirrung" hält, wenn jemand einen Dollar
liegen läßt, weil er nicht Lust hat, ihn ans dem Schmutze herausznwühlen.
So ist denn für Carus die Metaphysik uicht die Wissenschaft von dem, was
hinter den Dingen liegt, von den Entstehungsgründen der Erscheinungen und
dem Wesen der Dinge, sondern nur die formale, mathematische Seite der
Wissenschaft, die Gesamtheit aller Sätze, denen eine innewohnende Notwendigkeit
unbedingte Geltung verleiht, sodaß sie durch keine Erfahrung widerlegt werde»
können. Er glaubt sich mit dieser Begriffsbestimmung auf Kant berufen zu
dürfen. Das Begreifen der Dinge, sagt Carus, geht nicht etwa durch die
Dinge hindurch zu Gründen, die hinter ihnen liegen. Wenn das „Begreifen"
darin bestünde, so wäre die Welt allerdings unbegreiflich. Sondern das Wort
meint nur, daß erstens „von den Dingen in unserm Gehirn ein Bild vor¬
handen ist in Gestalt eines empfindenden Nervengewebes, das nnter Umständen
bewußt werden kann." sDas ist falsch ausgedrückt; das Nervengewebe ist keine
Bildergalerie; die Bilder wohnen nur in unsrer Seele.^ Und das Wort meint
zweitens eine systematische Anordnung dieser Bilder. Das eine wollen Nur
Carus zugestehen, daß er mit dem zweiten Satze das Wesen der Naturwissen¬
schaften richtig angiebt, die in der That nichts andres leisten, als daß sie den
Erscheinungen im systematischen Teile ihren richtigen Platz neben einander
und im dynamischen ihren richtigen Platz hinter einander anweisen.

Während Carus das dnrch uralte Erfahrung erwiesene Bedürfnis der
Menschenseele, nach dein Urquell des Weltalls und ihrem eignen jenseitigen
Urquell zu fragen, einfach leugnet, erklärt er mit der den Monisten eignen
Unfehlbarkeitsmiene die Wesenseinheit aller Dinge für eine unabweisbare Forde¬
rung der Vernunft, obwohl, abgesehen von den Scharen gewöhnlicher gläubiger
Christen, auch Männer wie Lotze in ihrem Geiste diese Forderung gar nicht
vorgefunden haben. Lotze kann die nicht begreifen, die, während doch „alles
Leben ans der Mannichfaltigkeit verschiedner und entgegengesetzter Wirkungen
fließt, unter dem, Vorwande nötiger Einheit eine traurige Monotonie des
Daseienden verlangen. Es mag wohl sein, daß andre Gründe die vermeint¬
liche Trennung unglaublich machen, aber in jenein bloß formellen Fehler eines
Mangels an Einheit liegt ein Motiv zu solcher Behauptung nicht, und wir
würden uns nicht im mindesten bedenken, falls die Thatsachen der Erfahrung
eine ähnliche Annahme nötig machten, die Anzahl solcher getrennter Gattungen
des Realen noch weit über diese Duplizität von Körper und Geist zu ver¬
mehren" (Medizinische Psychologie S. 23). Der Sache nach scheint Carus ja
mit Lotze und Leibniz übereinzustimmen, indem mich er das Geistesleben und
den Mechanismus der Körperwelt als zwei verschiedne Seiten desselben
Weltwesens ansieht und schon die kleinsten Teile dieses Wesens, die er lieber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/22>, abgerufen am 23.07.2024.