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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Amerikanische Philosophie

oder' Ontologie den Todesstoß versetzt, indem er lehrte, daß nur die Er¬
scheinungswelt Gegenstand der Philosophie sei. Mit dem Worte Erscheinung
ist nicht etwa gemeint, daß sie ein leerer, täuschender Schein, eine indische
Maya sei. Die Welt und die Dinge sind einfach, was sie zu sein scheinen.


Natur hat weder Kern noch Schale,
Alles ist sie mil einemmcile.

Daher genügt dem Verfasser auch Comte noch nicht, dem er aber für die
Erfindung des Wortes Positivismus dankbar ist, das er für seine eigne Lehre
als zutreffende Bezeichnung in Anspruch nimmt. "Das modernste aller Ge¬
spenster, sagt er, geht uuter dem Namen des Unerkennbaren um. Die Spuk¬
geister hat die Wissenschaft gebannt > nicht so ganz?!, aber ihr zum Trotz kehrt
der Aberglaube zurück in Gestalt der Idee von einem unbestimmten lind uu-
vcstimmbaren Etwas, das ein unerforschliches Geheimnis sein soll. Manche
fürchten es als die Macht, die im verborgnen wallet, manche verehren es als
den Inbegriff aller Vollkommenheit, manche lieben es als den Gegenstand ihrer
unaussprechlichen Sehnsucht, fast alle aber werfen sich nieder und beten es an.
Es ist der Bank der modernen Philosophie, der Fetisch, dessen Herrschaft die
Bilderstürmer des neunzehnten Jahrhunderts nicht abzuschütteln vermögen."
Für Carus giebt es nichts Unerklärliches, nichts Geheimnisvolles; selbst die
Unendlichkeit von Zeit und Nani" ist ihm die einfachste Sache von der Welt.
Nur in der Mathematik ist die Anwendung des Wortes "unendlich" berechtigt,
z. B. für die periodischen Dezimalbrüche. Auf körperliche Gegenstände ange¬
wandt -- und der Raum, ist nur an körperlichen Gegenständen vorhanden --
ist es nur ein dichterischer Ausdruck für unermeßlich oder unmeßbar. So
sprechen wir vou der unendlichen Meerestiefe, obwohl wir recht gut wissen,
daß sie ihre Grenzen hat. Die Welt ist ein wirklich vorhandner Gegenstand von
einer bestimmten Größe, die weder vermehrt noch vermindert werden kann,
wenn wir sie auch nicht auszumessen vermöge!,.

Das ist nun beinahe kindisch. Aber der Man,, keiiut seine Anlerikaner! Er
weiß, daß ihnen die Dollarjagd nicht Zeit läßt, mit dem alten Philosophen
zu fragein Wie, wenn ich an der Grenze des Weltalls stünde? Konnte ich
dann noch einen Pfeil ins Leere abschießen? Und wie dann, wenn es eine
solche Grenze überhaupt nicht giebt? Kant hat ebeu Recht, wenn er die
Raum- und Zeitfrage zu deu unlösbaren Antinomien rechnet, die dem Menschen
gebieterisch zurufen: Halt ein mit deiner Zwergenvernnnft, erkenne deine Ohn¬
macht, falle nieder und bete an!

Daß das amerikanische Treibe" die Seele in einen Zustand hinabdrücken
kann, wo sie solcher Empfindungen nicht "lehr fähig ist, glauben wir gern.
Sie ist dann eben ein niedrigeres Wesen geworden, als die Seelen Homers
und der Verfasser der Beden und der Bibel waren. Sie sieht es natürlicher-


Amerikanische Philosophie

oder' Ontologie den Todesstoß versetzt, indem er lehrte, daß nur die Er¬
scheinungswelt Gegenstand der Philosophie sei. Mit dem Worte Erscheinung
ist nicht etwa gemeint, daß sie ein leerer, täuschender Schein, eine indische
Maya sei. Die Welt und die Dinge sind einfach, was sie zu sein scheinen.


Natur hat weder Kern noch Schale,
Alles ist sie mil einemmcile.

Daher genügt dem Verfasser auch Comte noch nicht, dem er aber für die
Erfindung des Wortes Positivismus dankbar ist, das er für seine eigne Lehre
als zutreffende Bezeichnung in Anspruch nimmt. „Das modernste aller Ge¬
spenster, sagt er, geht uuter dem Namen des Unerkennbaren um. Die Spuk¬
geister hat die Wissenschaft gebannt > nicht so ganz?!, aber ihr zum Trotz kehrt
der Aberglaube zurück in Gestalt der Idee von einem unbestimmten lind uu-
vcstimmbaren Etwas, das ein unerforschliches Geheimnis sein soll. Manche
fürchten es als die Macht, die im verborgnen wallet, manche verehren es als
den Inbegriff aller Vollkommenheit, manche lieben es als den Gegenstand ihrer
unaussprechlichen Sehnsucht, fast alle aber werfen sich nieder und beten es an.
Es ist der Bank der modernen Philosophie, der Fetisch, dessen Herrschaft die
Bilderstürmer des neunzehnten Jahrhunderts nicht abzuschütteln vermögen."
Für Carus giebt es nichts Unerklärliches, nichts Geheimnisvolles; selbst die
Unendlichkeit von Zeit und Nani» ist ihm die einfachste Sache von der Welt.
Nur in der Mathematik ist die Anwendung des Wortes „unendlich" berechtigt,
z. B. für die periodischen Dezimalbrüche. Auf körperliche Gegenstände ange¬
wandt — und der Raum, ist nur an körperlichen Gegenständen vorhanden —
ist es nur ein dichterischer Ausdruck für unermeßlich oder unmeßbar. So
sprechen wir vou der unendlichen Meerestiefe, obwohl wir recht gut wissen,
daß sie ihre Grenzen hat. Die Welt ist ein wirklich vorhandner Gegenstand von
einer bestimmten Größe, die weder vermehrt noch vermindert werden kann,
wenn wir sie auch nicht auszumessen vermöge!,.

Das ist nun beinahe kindisch. Aber der Man,, keiiut seine Anlerikaner! Er
weiß, daß ihnen die Dollarjagd nicht Zeit läßt, mit dem alten Philosophen
zu fragein Wie, wenn ich an der Grenze des Weltalls stünde? Konnte ich
dann noch einen Pfeil ins Leere abschießen? Und wie dann, wenn es eine
solche Grenze überhaupt nicht giebt? Kant hat ebeu Recht, wenn er die
Raum- und Zeitfrage zu deu unlösbaren Antinomien rechnet, die dem Menschen
gebieterisch zurufen: Halt ein mit deiner Zwergenvernnnft, erkenne deine Ohn¬
macht, falle nieder und bete an!

Daß das amerikanische Treibe» die Seele in einen Zustand hinabdrücken
kann, wo sie solcher Empfindungen nicht »lehr fähig ist, glauben wir gern.
Sie ist dann eben ein niedrigeres Wesen geworden, als die Seelen Homers
und der Verfasser der Beden und der Bibel waren. Sie sieht es natürlicher-


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[0021] Amerikanische Philosophie oder' Ontologie den Todesstoß versetzt, indem er lehrte, daß nur die Er¬ scheinungswelt Gegenstand der Philosophie sei. Mit dem Worte Erscheinung ist nicht etwa gemeint, daß sie ein leerer, täuschender Schein, eine indische Maya sei. Die Welt und die Dinge sind einfach, was sie zu sein scheinen. Natur hat weder Kern noch Schale, Alles ist sie mil einemmcile. Daher genügt dem Verfasser auch Comte noch nicht, dem er aber für die Erfindung des Wortes Positivismus dankbar ist, das er für seine eigne Lehre als zutreffende Bezeichnung in Anspruch nimmt. „Das modernste aller Ge¬ spenster, sagt er, geht uuter dem Namen des Unerkennbaren um. Die Spuk¬ geister hat die Wissenschaft gebannt > nicht so ganz?!, aber ihr zum Trotz kehrt der Aberglaube zurück in Gestalt der Idee von einem unbestimmten lind uu- vcstimmbaren Etwas, das ein unerforschliches Geheimnis sein soll. Manche fürchten es als die Macht, die im verborgnen wallet, manche verehren es als den Inbegriff aller Vollkommenheit, manche lieben es als den Gegenstand ihrer unaussprechlichen Sehnsucht, fast alle aber werfen sich nieder und beten es an. Es ist der Bank der modernen Philosophie, der Fetisch, dessen Herrschaft die Bilderstürmer des neunzehnten Jahrhunderts nicht abzuschütteln vermögen." Für Carus giebt es nichts Unerklärliches, nichts Geheimnisvolles; selbst die Unendlichkeit von Zeit und Nani» ist ihm die einfachste Sache von der Welt. Nur in der Mathematik ist die Anwendung des Wortes „unendlich" berechtigt, z. B. für die periodischen Dezimalbrüche. Auf körperliche Gegenstände ange¬ wandt — und der Raum, ist nur an körperlichen Gegenständen vorhanden — ist es nur ein dichterischer Ausdruck für unermeßlich oder unmeßbar. So sprechen wir vou der unendlichen Meerestiefe, obwohl wir recht gut wissen, daß sie ihre Grenzen hat. Die Welt ist ein wirklich vorhandner Gegenstand von einer bestimmten Größe, die weder vermehrt noch vermindert werden kann, wenn wir sie auch nicht auszumessen vermöge!,. Das ist nun beinahe kindisch. Aber der Man,, keiiut seine Anlerikaner! Er weiß, daß ihnen die Dollarjagd nicht Zeit läßt, mit dem alten Philosophen zu fragein Wie, wenn ich an der Grenze des Weltalls stünde? Konnte ich dann noch einen Pfeil ins Leere abschießen? Und wie dann, wenn es eine solche Grenze überhaupt nicht giebt? Kant hat ebeu Recht, wenn er die Raum- und Zeitfrage zu deu unlösbaren Antinomien rechnet, die dem Menschen gebieterisch zurufen: Halt ein mit deiner Zwergenvernnnft, erkenne deine Ohn¬ macht, falle nieder und bete an! Daß das amerikanische Treibe» die Seele in einen Zustand hinabdrücken kann, wo sie solcher Empfindungen nicht »lehr fähig ist, glauben wir gern. Sie ist dann eben ein niedrigeres Wesen geworden, als die Seelen Homers und der Verfasser der Beden und der Bibel waren. Sie sieht es natürlicher-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/21>, abgerufen am 23.07.2024.