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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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geht die Forschung, kaum mehr Forschung, sondern Spielerei, lustig weiter.
Kurz, die klassische Philologie ist in Gefahr zu zerbröckeln -- die hervor¬
ragenden Männer, die das Ganze im Auge behalten, und deren es ja immer
noch zahlreiche giebt, werden den Lauf der Entwicklung kaum aufhalten.
Freilich wird es noch eine geraume Zeit dauern, ehe man sehen wird, wie
viel Mühe und Kosten unnütz verschleudert wordeu sind. Dieses Spezialisten¬
tum ist um so bedauerlicher, als man doch ja nicht glauben soll, daß nicht
noch Aufgaben ihrer Losung harrten, die große Gesichtspunkte verlangen und
große Ausblicke eröffnen, zu denen weder neues handschriftliches noch inschrift-
lisches Material notwendig ist, und bei denen weit mehr Gewinn herauskommen
würde, als bei so manchen Funden von Grabinschriften, die durch kostspielige Reisen
erreicht werden. Eine Geschichte des Wesens der Geschichtschreibung und
des historischen Stils von den ältesten griechischen Historikern durch die römische
Periode bis auf unsre Zeit würde reiche Belehrung und Anregung gewähren,
eine wie immer anch lückenhafte Behandlung des antiken "Folklore," d. h. der
Volksüberlieferung im engern Sinne, kostbaren Gewinn ergeben, so unter
anderen wirksam zu der Erkenntnis auch bei den Philologen beitragen, wie
viel näher uns das Altertum eigentlich steht, als man meist annimmt,
weiterer Aufgaben hier nicht zu gedenken. Und wieder andre hochwichtige
Probleme, deren Lösung man in jüngster Zeit näher getreten ist, wie lange
haben sie ihres Befreiers aus der Dunkelheit harren müssen, und wie wenige
nehmen an dem Werke den ihm gebührenden Anteil! Heute erst besitzen wir
eine allen Anforderungen entsprechende Geschichte der wissenschaftlichen Erd¬
kunde der Griechen, und wie allein, ja wie vereinsamt steht ihr Verfasser da!

Doch sei dem, wie ihm wolle, möge der Betrieb der klassischen Philologie
als einer Wissenschaft, wie er augenblicklich in Blüte steht, unanfechtbar sein,
mögen die, die allein der wissenschaftlichen Forschung dienen, mit Fug und
Recht ihm huldigen -- auf keinen Fall sollte der künftige praktische Philologe
in ihm aufgehen. Gewiß ist es auch für ihn unerläßlich, den Weg der selb¬
ständigen Forschung kennen zu lernen und zu betreten, und wenn ihm dann
später Muße dazu bleibt, mag er ihn sein Leben lang weiter wandeln; aber
in erster Linie sollte für seine Studien die Rücksicht ans den künftigen Schul¬
unterricht maßgebend sein, d. h. die praktische Seite der Philologie. Eine
wirklich gehaltvolle Erklärung der Schulschriftsteller, eine eingehende Würdigung
auch von der inhaltlichen Seite und infolge davon die Erweckung von Liebe
und Begeisterung für sie, das sind die Aufgaben, die der Gymnasiallehrer zu
leisten hat, nicht nur grammatische und kritische Experimente, wobei die alten
Schriftsteller als Phantome dienen.

Nicht als ob wir die formale Bildung, die durch die Beschäftigung mit
den alten Schriftstellern gewonnen werden kann, unterschützten. Im Gegenteil,
Wir stellen sie besonders hoch, halten sogar manches, was von der inhaltlichen


geht die Forschung, kaum mehr Forschung, sondern Spielerei, lustig weiter.
Kurz, die klassische Philologie ist in Gefahr zu zerbröckeln — die hervor¬
ragenden Männer, die das Ganze im Auge behalten, und deren es ja immer
noch zahlreiche giebt, werden den Lauf der Entwicklung kaum aufhalten.
Freilich wird es noch eine geraume Zeit dauern, ehe man sehen wird, wie
viel Mühe und Kosten unnütz verschleudert wordeu sind. Dieses Spezialisten¬
tum ist um so bedauerlicher, als man doch ja nicht glauben soll, daß nicht
noch Aufgaben ihrer Losung harrten, die große Gesichtspunkte verlangen und
große Ausblicke eröffnen, zu denen weder neues handschriftliches noch inschrift-
lisches Material notwendig ist, und bei denen weit mehr Gewinn herauskommen
würde, als bei so manchen Funden von Grabinschriften, die durch kostspielige Reisen
erreicht werden. Eine Geschichte des Wesens der Geschichtschreibung und
des historischen Stils von den ältesten griechischen Historikern durch die römische
Periode bis auf unsre Zeit würde reiche Belehrung und Anregung gewähren,
eine wie immer anch lückenhafte Behandlung des antiken „Folklore," d. h. der
Volksüberlieferung im engern Sinne, kostbaren Gewinn ergeben, so unter
anderen wirksam zu der Erkenntnis auch bei den Philologen beitragen, wie
viel näher uns das Altertum eigentlich steht, als man meist annimmt,
weiterer Aufgaben hier nicht zu gedenken. Und wieder andre hochwichtige
Probleme, deren Lösung man in jüngster Zeit näher getreten ist, wie lange
haben sie ihres Befreiers aus der Dunkelheit harren müssen, und wie wenige
nehmen an dem Werke den ihm gebührenden Anteil! Heute erst besitzen wir
eine allen Anforderungen entsprechende Geschichte der wissenschaftlichen Erd¬
kunde der Griechen, und wie allein, ja wie vereinsamt steht ihr Verfasser da!

Doch sei dem, wie ihm wolle, möge der Betrieb der klassischen Philologie
als einer Wissenschaft, wie er augenblicklich in Blüte steht, unanfechtbar sein,
mögen die, die allein der wissenschaftlichen Forschung dienen, mit Fug und
Recht ihm huldigen — auf keinen Fall sollte der künftige praktische Philologe
in ihm aufgehen. Gewiß ist es auch für ihn unerläßlich, den Weg der selb¬
ständigen Forschung kennen zu lernen und zu betreten, und wenn ihm dann
später Muße dazu bleibt, mag er ihn sein Leben lang weiter wandeln; aber
in erster Linie sollte für seine Studien die Rücksicht ans den künftigen Schul¬
unterricht maßgebend sein, d. h. die praktische Seite der Philologie. Eine
wirklich gehaltvolle Erklärung der Schulschriftsteller, eine eingehende Würdigung
auch von der inhaltlichen Seite und infolge davon die Erweckung von Liebe
und Begeisterung für sie, das sind die Aufgaben, die der Gymnasiallehrer zu
leisten hat, nicht nur grammatische und kritische Experimente, wobei die alten
Schriftsteller als Phantome dienen.

Nicht als ob wir die formale Bildung, die durch die Beschäftigung mit
den alten Schriftstellern gewonnen werden kann, unterschützten. Im Gegenteil,
Wir stellen sie besonders hoch, halten sogar manches, was von der inhaltlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/181>, abgerufen am 23.07.2024.